Der Tag, an dem der Bäcker zum Mörder wurde
Spurensuche zehn Jahre nach dem Banküberfall: Gemeinde hat ehemaliges Sparkassen-Gebäude zum Café umgebaut.

Das Gebäude steht noch, die Sparkassen-Filiale ist seit langem geschlossen. In dem Haus, in dem heute vor zehn Jahren bei einem Banküberfall eine Rentnerin erschossen und ihr Ehemann sowie ein Bankangestellter lebensgefährlich verletzt wurden, gehen Brötchen und Kaffee über die Theke. Das hilft, die schreckliche Tat zu verarbeiten.
Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft und Polizeidirektion Heilbronn, 11. Oktober 2004: „Der am Freitagabend festgenommene 46 Jahre alte Bäckermeister aus Siegelsbach sitzt nach wie vor in Untersuchungshaft.“
Kein Vergessen
Am zehnten Jahrestag der brutalen Tat wird Siegelsbachs Bürgermeister Uli Kremsler an der ehemaligen Sparkasse, die jetzt eine Bäckereifiliale ist, Blumen niederlegen. Eine Geste, die ihm sehr wichtig ist. „Damit deutlich wird, dass die Frau nicht vergessen ist. Dass die Opfer nicht vergessen sind.“ Mit einer dauerhaften Plakette an die Ermordete zu gedenken, ist seiner Ansicht nach zum jetzigen Zeitpunkt nicht nötig. „Allein das Gebäude erinnert an die Tat.“
Zehn Jahre nach dem Überfall, für den ein Bäcker aus dem 1600-Einwohner-Dorf zur Höchststrafe verurteilt wurde, ist weitgehend Ruhe eingekehrt. „Es beschäftigt uns nicht mehr täglich“, sagt Kremsler. Kein Vergleich mit den Monaten, als der Fall vor Gerichten verhandelt wurde. Der Bäcker, der Überfall, man habe sich dem Thema schwer entziehen können. Es war Gesprächsstoff gerade deshalb, weil es die Bürger bewegte und sie darüber reden mussten. Kremsler: „Man wollte sich selbst mitteilen.“
In der breiten Öffentlichkeit ist es nun ruhig um den Raubmord geworden, mit den Ereignissen abgeschlossen haben trotzdem nicht alle. Vor allem jene nicht, die im alten Ortskern wohnen und mit dem Täter und dessen Familie in der Nachbarschaft befreundet waren, weiß der Bürgermeister. Für sie bleibt es schwierig, wenn sie beispielsweise außerhalb der Gemeinde auf die Ereignisse angesprochen werden. Siegelsbach gleich Raubmord: Das haben sich viele gemerkt.
Im Herbst 2014 plätschert in der Ortsmitte ein Brunnen. Ein Hahn ist zu hören, wenn nicht der Lärm der vielbefahrenen Hauptstraße alles übertönt. Mittlerweile hat die Gemeinde das Bankgebäude gekauft und für einen auswärtigen Bäcker umgebaut. Die Filiale mit dem Café hat sich zu einer Anlaufstelle entwickelt. Über den Jahrestag will kaum jemand reden. In der Bäckerei nicht, auch an anderer Stelle wird um Verständnis gebeten, nicht für ein Gespräch zur Verfügung zu stehen. Es wird die Bitte geäußert, das Thema sehr behutsam anzugehen: Die Menschen im Dorf hätten diesen Schutz verdient. Es wäre schlimm, würden alte Wunden wieder aufgerissen. Auch die Überlebenden wollen sich nicht äußern.
200 Schritte genügen, um vom Tatort zur einstigen Bäckerei des Verurteilten zu gelangen. Wüsste man es nicht besser, man könnte meinen, sie öffnet wieder. Die Fenster sind mit Vorhängen zugezogen, auf denen der Schriftzug Bäckerei steht. Der Familienname wirbt auf einem Schild, sogar Öffnungszeiten kleben an der Tür – ausgerechnet auf einem Werbedruck der Sparkassen. Vieles erinnert hier an den Täter, obwohl das Anwesen längst den Besitzer gewechselt hat. „Das Bäckerei-Schild hätte man wegnehmen können“, findet Uli Kremsler. Zumal es von anderer Seite heißt, dass im Dorf die meisten glauben, dass der richtige Mann verurteilt wurde. Wer daran zweifelt, halte sich mit seiner Meinung zurück – um in nichts hineinzugeraten.
Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft und Polizeidirektion Heilbronn, 27. Oktober 2004: „In den vergangenen drei Wochen wurde der Großteil der insgesamt knapp 300 Spuren von den Ermittlungsbeamten abgeklärt. Dabei hat sich nach Auffassung der Ermittlungsbehörden der Tatverdacht gegen den 46 Jahre alten Bäckermeister weiter erhärtet.“
Die Bankfiliale stand eine Zeit lang leer. Als sich der Gemeinde im Jahr 2012 die Möglichkeit bot, kaufte sie das Anwesen. Zwischen 130 000 und 140 000 Euro hat die Kommune investiert, um das Haus umzubauen. Kritik daran hat es im Gemeinderat nie gegeben; im Nachhinein hat sich der Schritt gelohnt – nicht nur wegen der Pachteinnahmen.
Trauma
„Wir haben das Image des Gebäudes wegbekommen und es ins Gegenteil verkehrt“, sagt Bürgermeister Uli Kremsler, für den die neue Nutzung ein „wichtiger Schritt zur Bewältigung des Traumas“ ist. Er gibt aber zu, dass es ein Misserfolg hätte werden können. „Es war ein Risiko.“ Was, überlegt er, wenn die Siegelsbacher die neue Bäckerei wegen der Vorgeschichte nicht angenommen hätten? Es kam anders. „Das trägt ein Stück weit dazu bei, die Geschichte zu verarbeiten.“
Ob Alfred B. wieder freikommt, wird frühestens 2020 geprüft

Es war ein Justizverfahren voller Emotionen. Der Mordprozess gegen den Siegelsbacher Bäckermeister Alfred B. hat die Menschen in der Region bewegt wie kein zweiter in der jüngeren Vergangenheit.
April 2006: Am Anfang steht ein Freispruch am Heilbronner Landgericht. Unvergessen ist der schrille Schrei des Entsetzens einer Zuhörerin, als der Richter das Urteil vorträgt. Freispruch – wegen erwiesener Unschuld. Der wahre Täter „läuft noch frei herum“, sagt der Richter – obwohl es schwerwiegende Indizien gibt. Die zwei Überlebenden aus der Bank haben Alfred B. identifiziert; die Polizei fand beim hochverschuldeten Bäcker 21.000 Euro Bargeld in einem Versteck, weitere 10.000 hat er am Tattag in einer anderen Bank eingezahlt – es passt zum Bankraub, bei dem der Täter 33.000 Euro erbeutet hat.
Eine Teil-DNA-Blutspur im Auto des Bäckers stammt vom Bankangestellten; ein blutiger Sohlenabdruck an der Bank passt zum Stiefel des Bäckers. Die Tatwaffe indes wurde nie gefunden. Die Richter ziehen einen Zeugen heran, der den Bäcker angeblich zu einer bestimmten Uhrzeit durch den Ort fahren sah; und sie berücksichtigen eine Zeugin, die kurz vor der Tat verdächtige Stimmen aus der noch verschlossenen Bank hörte.
Die überlebenden Opfer und viele Siegelsbacher sind entsetzt. Staatsanwalt Martin Renninger geht postwendend in Revision. Nachdem der Bundesgerichtshof das Heilbronner Urteil kassiert hat, wird der Fall am Landgericht Stuttgart neu aufgerollt. Seine frühere Verlobte belastet B. zusätzlich mit Angaben über verdächtige Handlungen am Tattag. In seinem Schlusswort sagt Alfred B., dass er noch nie einen Bankraub oder Mord begangen habe. „Und das schwöre ich bei Gott.“
Es nutzt nichts. Zu lebenslanger Haft mit besonderer Schwere der Schuld für die skrupellose Tat wird der Bäcker im April 2008 verurteilt. Es gebe nichts, „was gegen die Täterschaft spricht“, sagt der Stuttgarter Richter.
Heute sitzt Alfred B. (56) im Heilbronner Gefängnis, arbeitet dort in einem Montagebetrieb. Unauffällig soll er sich hinter Gittern verhalten. Nach Stimme-Informationen hat er die Tat bis heute nicht gestanden, vertritt vor seiner Familie nach wie vor die Version von einem Fehlurteil.
Auch die Staatsanwaltschaft hat keine Kenntnisse, dass der Bäcker den Mord in der Bank einräumt. „Erst Ende 2020“, erklärt Staatsanwalt Harald Lustig, werde bei Alfred B. eine weitere Haftfortdauer geprüft. Eine mögliche Reue und die Auseinandersetzung mit der Tat spielen bei der Prüfung eine wichtige Rolle. Die Entscheidung trifft die Große Strafvollstreckungskammer des Landgerichts. Drei Berufsrichter werden sich den Fall Alfred B. dann genau ansehen.
Gedenken an Ermordete
Zum Gedenken an die Getötete hat Bürgermeister Uli Kremsler am Dienstag an der einstigen Sparkassen-Filiale einen Blumenstrauß niedergelegt. An das Geldinstitut erinnert nichts mehr. Vor zwei Jahren kaufte die Gemeinde die leere Immobilie und baute es zu einer Bäckereifiliale samt Café um.