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Flucht nach dem Zweiten Weltkrieg
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Nach der Vertreibung aus Reichenberg eine neue Heimat in Heinsheim gefunden

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Johanna Klösel und ihre Tochter Brunhilde mussten ihre Heimat Reichenberg im damaligen Sudetenland kurz nach dem Zweiten Weltkrieg verlassen. Sie ließen sich in Bad Rappenau-Heinsheim nieder. Die Geschichte von Vertreibung und Flucht ihrer Vorfahren beschäftigt die Nachfahrin Isolde Stark (70) bis heute.

Da war die Welt noch in Ordnung, Oma Johanna Klösel mit Mann und Kind in Reichenberg im damaligen Sudetenland. Der Mann fiel im Krieg. Johanna und ihre Tochter Brunhilde wurden vertrieben.
Da war die Welt noch in Ordnung, Oma Johanna Klösel mit Mann und Kind in Reichenberg im damaligen Sudetenland. Der Mann fiel im Krieg. Johanna und ihre Tochter Brunhilde wurden vertrieben.  Foto: Plapp-Schirmer, Ulrike

Vom Verlust der Heimat, von Vertreibung, Krankheit und einem großen familiären Zusammenhalt handelt die Geschichte, die Isolde Stark am heimischen Esstisch in Bad Rappenau-Heinsheim erzählt. Es ist die Geschichte von Johanna Klösel und ihrer Tochter Brunhilde, später verheiratete Herzig, die sich 1947 im damaligen Sudetenland auf einen Weg in eine unbekannte Zukunft machten. Da war die kleine Familie schon zerbrochen.

Von Reichenberg im heutigen Tschechien nach Heinsheim an den Neckarstrand

Der Vater war als Soldat bei Pirmasens gefallen. Die beiden Söhne waren an Diphtherie gestorben. Erst der eine, dann der andere.

Mutter und Tochter schafften es schließlich bis nach Heinsheim, wo sich Onkel Leo Richter als Bäcker bereits niedergelassen hatte. Die Vertreibung ihrer Vorfahren, sagt Isolde Stark, habe sie und die Familie sehr geprägt. Wenn sie Bilder von Flüchtlingen im Fernsehen sehe, denke sie oft daran, wie ihre Großmutter Anna und ihre Mutter Brunhilde die Heimat verlassen mussten.

Krieg und seine Schrecknisse: Der Mann gefallen, die Söhne an Diphtherie gestorben

„Die Oma hat nie wieder geheiratet“, erzählt Isolde Stark. Bis zu ihrem Tod 1999 hat sie mit im Haus in Heinsheim gelebt. Brunhilde Herzig ist dort 90-jährig in diesem Juli gestorben. Geburtsurkunde, Dokumente, Fotos der Vertriebenen: Sie passen in zwei Koffer.

Alles habe die Oma für die Tochter als ihrem einzigen überlebenden Kind gemacht: Bis hin zu der Doppelhaushälfte, die sie organisiert habe. Selbst die Ur-Großmutter habe Johanna Klösel 1958 aus der damaligen Tschechoslowakei nach Heinsheim geholt. Alle lebten unter einem Dach. „Die Großmutter war glücklich, als meine Eltern 1954 heirateten und meine Schwester Edeltraud geboren wurde.“ Doch das Glück war nur von kurzer Dauer.

Die Erinnerung an die Heimat im Sudetenland: Sie passt in zwei Koffer, die die Heinsheimerin Isolde Stark aufbewahrt hat. Sie ist die Enkelin, beziehungsweise Tochter der beiden Frauen, deren Fluchtgeschichte sie immer noch tief bewegt.
Die Erinnerung an die Heimat im Sudetenland: Sie passt in zwei Koffer, die die Heinsheimerin Isolde Stark aufbewahrt hat. Sie ist die Enkelin, beziehungsweise Tochter der beiden Frauen, deren Fluchtgeschichte sie immer noch tief bewegt.  Foto: Plapp-Schirmer, Ulrike

Isolde Starks Schwester Edeltraud erkrankte im Alter von drei Jahren an Hirnhautentzündung und war fortan schwerst mehrfach behindert. „Ein 100 prozentiger Pflegefall“, so Stark. 33 Jahre lang musste Edeltraud liegen. Für die Oma ein weiterer schwerer Schicksalsschlag, den sie annahm und aktiv parierte: Sie opferte sich auf und pflegte das Enkelkind bis zu dessen Tod 1990.

Ein starker Familienzusammenhalt ist das Ergebnis von Vertreibung und Flucht

„Meine Oma hat schlimme Zeiten mitgemacht. Aber wenn man sie fragte, wie es ihr geht, sagte sie immer ,gut’“, erzählt Isolde Stark. Nie habe Anna Klösel, von allen „Mutti“ genannt, gejammert. „Kein Gezeter, nichts.“

Dass sie die Heimat verlassen musste, habe Johanna Klösel zeitlebens belastet. „Aber sie hat sich angepasst. Gezwungenermaßen.“ Die Familie wurde zu ihrer Welt. „Durch die Vertreibung“, meint Isolde Stark, „sieht man Familie noch einmal ganz anders.

Auch der Vater von Edeltraud und Isolde war ein Geflüchteter, der über mehrere Stationen an den Neckar kam. Dort, in Heinsheim, habe Erich Herzig schnell Fuß gefasst. Habe sich im Sport und bei der Feuerwehr engagiert, war akzeptiert. Aber dass er Böhmerwälder war, das habe er zeitlebens betont. Die Heimat vermisst? Das haben sie alle. Verbittert sei trotzdem keiner gewesen, sagt Stark: „Nur die Anna, die war auf die Tschechen stinkig.“ Und ein Misstrauen gegenüber Fremden habe sie sich bis zum Schluss bewahrt.

Vertreibung und Flucht traumatisiert Menschen - Johanna Klösel und ihre Tochter hatten Glück

„Manche Menschen haben Flucht und Vertreibung nicht verwunden“, sagt Isolde Stark, „doch bei uns war das anders: Wir haben in Heinsheim eine neue Heimat gefunden.“ Auch die Mutter habe das so gesehen. Nur in den letzten Lebensmonaten sei die Vertreibung wieder hochgekommen, „dann wollte sie immer zum Jeschken, einem Berg bei Reichenberg, und nach Hause, in die Görlitzer Straße.“

Trotzdem: „Wie sie das alles weggesteckt haben, und was die beiden alles geleistet haben: Da muss ich den Hut ziehen“, sagt Isolde Stark. Der enge Zusammenhalt in der Familie sei das Ergebnis von Vertreibung und Flucht. „Einer hilft dem anderen.“ Das war so, als sie selbst mit 17 Jahren ihr erstes Kind bekam und ihre Lehre weitermachen wollte. Und das ist jetzt noch so, wo im oberen Stock Enkel Maurice mit seiner kleinen Familie wohnt. „Meine Großmutter und meine Mutter konnte nichts mehr erschüttern.“ Glück war für sie, wenn es weiterging und ein neues Familienmitglied dazukam.

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