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Die Behinderung des Sohns Markus prägt die Unternehmerfamilie Würth. Die Lebensgemeinschaft im hessischen Hofgut Sassen bot dem 50-Jährigen Entwicklungsmöglichkeiten.

Von unserem Redakteur Manfred Stockburger
Gestörte Idylle im Hofgut Sassen in Nordhessen: Hier wurde Markus Würth am Mittwoch entführt, nach kurzer Zeit kam er aber wieder frei. Foto:dpa
Gestörte Idylle im Hofgut Sassen in Nordhessen: Hier wurde Markus Würth am Mittwoch entführt, nach kurzer Zeit kam er aber wieder frei. Foto:dpa

Ein Alptraum der Unternehmerfamilie ist mit der Entführung von Markus Würth wahr geworden. Dass der 50-jährige Sohn von Carmen und Reinhold Würth anders als seine Schwestern Marion und Bettina in der Öffentlichkeit bis Mittwoch kaum präsent war, hat das furchtbare Geschehen nicht verhindern können: Familie und Firma haben den behinderten Sohn nie versteckt, aber immer dezent im Hintergrund gehalten.

Indirekt ist Markus Würth in der Region und darüber hinaus aber überaus präsent - im Engagement der Unternehmerfamilie für Menschen mit Handicap. Das Schicksal des eigenen Kindes hat den Hohenlohern Augen und Herzen geöffnet.

Sichtbarstes Zeichen des Engagements in der Region ist das feine Hotel Anne-Sophie mit dem Restaurant Handicap in Künzelsau, in dem Behinderte und Nichtbehinderte in gemeinsamen Teams arbeiten. Ein Vorbild für gelebte Inklusion. Das Unternehmen und die Familie Würth fördern darüber hinaus die Special Olympics - bei diesen Wettkämpfen wird die individuelle Leistungsfähigkeit der behinderten Sportler berücksichtigt, was ihnen die Möglichkeit gibt, unabhängig von ihren Leistungslevels Sport zu treiben und an Wettbewerben teilzunehmen.

Auch abseits der großen Öffentlichkeit setzt sich vor allem Mutter Carmen Würth mit großem Engagement und viel Liebe für behinderte und benachteiligte Menschen ein - im Inland wie im Ausland. Über die Europäische Gesellschaft Diaphania unterstützt sie sie eine Einrichtung in Griechenland. In dem kleinen Fischerdorf Galaxidi bei Delphi leben in der Lebensgemeinschaft Estia Agios Nikolaos geistig behinderte Menschen mit nicht behinderten im Familienverband zusammen und gestalten gemeinsam Arbeit und Freizeit. Auch in der ehemaligen Sowjetrepublik Kirgistan sind die Würths als großzügige Förderer der Behinderteneinrichtung Ümüzt Nadjeschda unweit der Hauptstadt Bishkek aktiv.

Carmen, Markus und Reinhold Würth beim 80. Geburtstag des Unternehmers. Beiratschefin Bettina Würth steht in der zweiten Reihe. Foto: Archiv/Berger
Carmen, Markus und Reinhold Würth beim 80. Geburtstag des Unternehmers. Beiratschefin Bettina Würth steht in der zweiten Reihe. Foto: Archiv/Berger

Zur Welt kam Markus Würth am 4. März 1965, sehr zur Freude seiner Eltern als gesunder und kräftiger Junge, wie es in einer Biografie der Unternehmergattin heißt. Doch das Familienglück währt nicht sehr lange: Eine Mehrfachimpfung, die damals vorgeschrieben ist, hinterlässt im Gehirn des Babys bleibende Schäden.

"Ich wollte die dritte Impfung nicht, zumal es sich um einen neuen Impfstoff gegen Keuchhusten handelte, der dann später auch durch ein anderes Präparat ersetzt wurde", erzählt die Mutter in ihrer Biografie. "Doch die Ärzte haben einen unter Druck gesetzt mit der Warnung: Wenn Sie das nicht machen, gefährden Sie die Gesundheit ihres Kindes."

Zunächst hat der Junge hohes Fieber, es gibt feinmotorische Störungen. Das Kind entwickelt sich nicht richtig. Mutter Würth kümmert sich aufopferungsvoll um den kleinen Markus. Sie nimmt sich viel Zeit und fördert den Sohn, dessen Zustand sich nach Jahren einigermaßen stabilisiert. Doch die Schäden, so heißt es in dem Buch, erwiesen sich als irreparabel.

Es ist ein schwerer Schicksalsschlag für die Künzelsauer Unternehmerfamilie, die damals gerade erst die ersten Auslandsgesellschaften gegründet hatte. Der Weg zum heutigen Weltkonzern ist damals noch weit.

Für Carmen Würth beginnt eine Odyssee durch die Medizin - vergeblich konsultiert die Familie damals selbst das John-F.-Kennedy-Hospital im amerikanischen Baltimore. "Ich musste mich um alles selbst kümmern", wird die Mutter in der Biografie von Wolfgang Bok zitiert. "Ich habe dabei viele Demütigungen erlebt." Auch die Suche nach einer geeigneten Bleibe für den behinderten Sohn ist schwierig. Eine Zeitlang ist Markus tagsüber auf einem Bauernhof in Hohenlohe untergebracht, 1985 kommt er schließlich nach Sassen. Dort fand die Mutter, was sie suchte: Einen Raum, der auch Menschen mit Handicap langfristig Entwicklungsmöglichkeiten und Lebensglück in einer lebendigen Gemeinschaft verschafft. Die Arbeit in der Gärtnerei gibt ihm Bestätigung - und Lebensfreude.

"Hätte Frau Würth mit dem Geldbeutel geklimpert, hätten wir sicher nein gesagt", sagt der damalige Sassen-Leiter Kurt Eisenmeier in der Biografie. Die Lebensgemeinschaft Sassen orientiert sich an den anthroposophischen Grundsätzen Rudolf Steiners. Geld steht nicht im Zentrum des Geschehens in der "menschlichen Oase" Sassen. Freundschaft ist das Kapital, im Mittelpunkt steht die Gemeinschaft der etwa 250 Bewohner, die in Großfamilien zusammenleben. So normal wie möglich.

Ideen

Die Freundschaft zwischen der Familie und der Einrichtung beruht auf Gegenseitigkeit: "Frau Würth hat immer gleich Ideen, wie man ein Problem lösen kann", schwärmt der mittlerweile verstorbene Kurt Eisenmeier in der Biografie. Natürlich haben die Würths aber im Lauf der Jahre auch mit finanziellem Engagement mitgeholfen, Sassen weiter auszubauen.

Drei Jahrzehnte lang kann Markus Würth unbehelligt und abseits des hektischen Unternehmerhaushalts in Sassen leben - häufige Besuche seiner Mutter gehören dazu. Nur ganz selten steht er im Rampenlicht - zuletzt beim 80. Geburtstag des Vaters im April. Wie Reinhold Würth liebevoll seinen Sohn zusammen mit der ganzen Großfamilie auf die Bühne holt, zählt zu den emotionalen Höhepunkten des Geburtstagsfests.

Zu Hause in Hohenlohe mag Markus Würth nur selten sein, und doch ist er auch im Alltag seiner Eltern präsent. Zum Beispiel mit dem tönernen Geschirr aus Sassen, mit dem Carmen Würth ihre Gäste gerne bewirtet. Ganz die Unternehmergattin, kümmert sich die 77-Jährige persönlich darum, dass die Sassener Töpfer in ihren Designs auf Kundenwünsche Rücksicht nehmen.

Nach dem Alptraum der vergangenen Tage muss sich die Unternehmerfamilie jetzt ganz neu sortieren.

 
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