Obdachlos in eisigen Nächten: Bewegende Schicksale im Heilbronner Erfrierungsschutz
Die Betten-Nachfrage im Erfrierungsschutz der Heilbronner Aufbaugilde steigt sprunghaft an. Der Verein Menschen in Not bezahlt die Miete für die drei Räume in den Verwaltungsgebäuden der Neckarhalde. Der Einsatz ist so lebensrettend wie nie.

Diese Gedanken gingen Udo Schlichtherle nicht mehr aus dem Kopf: Während er mit seinen Söhnen in einer kalten Novembernacht vor einem Jahr nach dem Besuch eines Eishockey-Spiels den Heimweg antritt, muss ein Mann nahe des Eisstadions am Europaplatz in Heilbronn im Freien in einer Bushaltestelle übernachten. In diesem Moment freut sich Schlichtherle auf prasselndes Kaminfeuer und einen warmen Kaffee zu Hause. Für den nur notdürftig Zugedeckten auf der Sitzbank scheinen diese Annehmlichkeiten unerreichbar.
Schlichtherle: "Das hat mich so mitgenommen, dass ich mich gleich am nächsten Tag informiert habe, wie man diesen obdachlosen Menschen helfen kann." Seither engagiert sich der Bad Friedrichshaller einmal wöchentlich im Erfrierungsschutz der Heilbronner Aufbaugilde in den Räumen des Freibads Neckarhalde.
Menschen in Not zahlt Miete für Heilbronner Erfrierungsschutz
Über den Winter werden die Verwaltungsräume, die den Stadtwerken Heilbronn gehören, nicht genutzt. 16 Übernachtungsplätze stehen vom 1. November bis 31. März für Obdachlose zur Verfügung, die ansonsten einer eiskalten Lebensbedrohung ausgesetzt wären.
Die Miete der Zimmer für die 152 Nächte bezahlt der Verein Menschen in Not aus Spenden der Leserhilfsaktion der Heilbronner Stimme. "Für diese Hilfe sind wir sehr dankbar", sagt Gerald Bürkert, Geschäftsführer der Heilbronner Aufbaugilde.
Kalte Winternächte: Erfrierungsschutz in Heilbronn immer mehr gefragt
Der Erfrierungsschutz in Heilbronn ist komplett spendenfinanziert. Zuschüsse durch die öffentliche Hand gibt es nicht. Und der Bedarf an kostenlosen Übernachtungsmöglichkeiten in kalten Nächten steigt: Während bis Ende November 2021 insgesamt 85 Menschen den Erfrierungsschutz in Heilbronn aufgesucht haben, waren es im vergangenen Jahr zu dieser Zeit 184. Mit 276 Menschen bis zum vergangenen Montag ist die Nachfrage nochmal sprunghaft gestiegen.
Bürkert: "Man sieht die Symptome - dass immer mehr Menschen auf der Straße leben. Die Ursachen sind vielfältig: Es fehlt an sozialem Wohnraum, soziale Mittel werden gekürzt. Aufgrund von Inflation und Energieteuerung geraten Menschen mit ihrer Miete in den Rückstand und müssen die Wohnung verlassen." Vor Obdachlosigkeit und dem Angewiesensein auf Hilfsangebote ist niemand mit absoluter Sicherheit geschützt
Soziale Säulen geben im Leben Halt
Entscheidend seien laut Bürkert die Säulen, auf die man sein Leben baut. Dies können die Familie, der Freundeskreis, Hobbys oder der Beruf sein - idealerweise eine Kombination aus allem. Bürkert: "Wenn eine Stütze - oder mehrere - wegbrechen, kann das eine bislang gelungene Biografie erschüttern."
Der Geschäftsführer der Aufbaugilde Heilbronn nennt ein Beispiel: "Mir ist ein Zahnarzt bekannt, dessen Ehe in die Brüche ging. Er begann zu trinken, bis er seinen Beruf nicht mehr ausüben konnte und auf der Straße landete." Daher warnt Bürkert davor, rasch über Menschen und deren Situation zu urteilen. "Jemandem, dem die wichtigste Stütze seiner Identität weggebrochen ist, einfach nur ein "Stell" dich nicht so an" zu entgegen, ist sicher nicht die Lösung."
Junger Heilbronner Obdachloser im Teufelskreis
Im Heilbronner Erfrierungsschutz gibt es drei Räume - einer nur für Frauen. Wenn in einer Winternacht mehr Gäste als Betten vor Ort sind, stellen die Helfer, die im Duo als Ansprechpartner da sind, im Gang Klappbetten auf. "Da finden wir eine Lösung", sagt Schlichtherle. Etwa drei Viertel der Gäste sind Männer zwischen 27 und 67 Jahren.
Einer von ihnen ist Nexhmedin. Der 31-Jährige stammt aus Lörrach und verbringt derzeit jede Nacht im Heilbronner Erfrierungsschutz. Er kämpft gegen Sucht und Depressionen. Sein Vermieter habe ihn rausgeworfen, habe alle seine Habseligkeiten entsorgt, sagt der Mann mit den albanischen Wurzeln. "Ich wollte mich wehren, habe aber irgendwann aufgegeben." Nun befindet er sich in einem Teufelskreis: Er möchte arbeiten. Doch ohne festen Wohnsitz, ist das schwierig. Und als Arbeitsloser haben manche Vermieter Vorurteile - und nehmen ihn gar nicht erst in die Auswahl.
Obdachlose in Heilbronn halten zusammen
Umso wichtiger findet er, dass es den Heilbronner Kälteschutz gibt: "Wir Gäste hier kennen uns mittlerweile gut, helfen uns gegenseitig, teilen Essen und Getränke. Auf dieses Angebot angewiesen zu sein, hat sich keiner von uns ausgesucht." Den Helfern ist er dankbar: "Sie sind sehr herzlich zu uns. Wenn ich hierher komme, ist das wie eine Ersatzfamilie. Das gibt mir Hoffnung, dass es auch wieder besser laufen wird."
Kurz vor der Nachtruhe um 22 Uhr setzt Helfer Roland Lenz Wasser für Tee auf. Er sagt: "Ich hatte viel Glück im Leben, mir geht es gut. Ich finde es wichtig, sich für Menschen zu engagieren, die es schlimmer haben. Das sollte selbstverständlich sein." Das Teewasser kocht und wärmt die Gäste bald von innen, während draußen Raureif sichtbar wird. Kaffee gibt es um diese Zeit nicht mehr, schließlich sollen die Leute schlafen. Wie schon in den vergangenen Nächten ohne Zwischenfall stehen wohl auch diesmal ruhige Stunden bevor, bis das gute Dutzend Männer und Frauen am Morgen wieder seiner Wege geht - und sich großteils abends erneut in den warmen Kissen der Aufbaugilde vor der Kälte schützt.

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