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Heilbronner Juden auf der Suche nach Normalität

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Vor 20 Jahren fand die jüdische Gemeinde in Heilbronn eine neue Heimat. Heute leidet sie unter Nachwuchsmangel, manche Juden leiden auch unter Angst, wegen eines neuen Antisemitismus.

Michael Rubinstein, Avital Toren und Günter Spengler (von links) wollen die jüdische Gemeinde Heilbronn nach der "Schockstarre" beleben.
Michael Rubinstein, Avital Toren und Günter Spengler (von links) wollen die jüdische Gemeinde Heilbronn nach der "Schockstarre" beleben.  Foto: Seidel, Ralf

Nach dem 7. Oktober, dem Tag der Terrorattacken der Hamas auf Israel, herrschte zunächst "Schockstarre", berichtet Günter Spengler vom Freundeskreis der Synagoge. Inzwischen versuche die jüdische Gemeinde von Heilbronn, zur Normalität zurückzukehren, sofern das in Zeiten eines neu aufgeflammten Antisemitismus überhaupt möglich ist.

Freitags zeugen an der südlichen Allee ausgerechnet Polizeiautos davon. Direkt gegenüber der einstigen Synagoge, die 1938 von Nazis in Brand gesteckt worden war, hat die 2002 wiedergegründete Gemeinde 2004 eine neue Heimat gefunden.

Das Schildchen an der Klingel ist kaum zu entziffern, in einer Ecke hängt ein Videoauge. Im Treppenaufgang eine Vitrine mit einem Menora-Leuchter und einem vergilbten Bild der alten Synagoge. Die Stahltür öffnet sich. Gemeindevorsteherin Avital Toren strahlt die Besucher an, manche umarmt sie.

Neujahrsfest mit Baumpflanzung in der City

Heute ist ein besonderer Tag. Juden in aller Welt feiern Tu bi Schwat, das Neujahrsfest der Bäume. Aus Stuttgart ist Shimon Motza gekommen. Er hält praktischen Religionsunterricht, zieht anhand von Trauben, Äpfeln, Nüssen und anderen "Geschenken der Natur" Parallelen zu menschlichen Befindlichkeiten. "Wein darf nicht fehlen, der ist bei jedem religiösen Fest unverzichtbar, nur koscher muss er sein."

An Tu bi Schwat sei es auch Brauch, einen Baum zu pflanzen, erklärt Spengler, "aber weil es derzeit noch kalt werden kann, hat uns das Grünflächenamt geraten, das erst im Frühjahr machen". Der Standort stehe noch nicht fest, "aber es wird in der Innenstadt sein, mittendrin". Toren: "Alle sollen sehen, dass es uns gibt, wieder gibt."

Einzelschicksale aus der Ex-Sowjetunion und aus Israel

Zum Beispiel Boris Gelfenboim. Der Bauingenieur kam 1992 aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland, wie 220.000 andere sogenannte jüdische Kontingentflüchtlinge, von denen bald 150 in Heilbronn landeten. "Sie bildeten den Grundstock der neuen Gemeinde", erinnert sich Toren, die damals im Auftrag der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg (IRGM) die Heilbronner Filiale aufbaute.

"Zunächst fanden wir an der Moltkestraße bei den Freimaurern Unterschlupf", erinnert sich die heute 81-Jährige. Dann hat sie ihre Freundin Dr. Tinela Balogh auf die Räume an der Allee aufmerksam gemacht, die man mit Eigenleistung und dem Freundeskreis in ein kleines Gemeindezentrum verwandelt hat: mit eigens in Israel geschriebener Tora, mit Toraschrein, aber auch mit Küche und einer Bibliothek, bei deren Betreten sogar bei Michael Rubinstein "das jüdische Herz höher schlägt, Denn so etwas haben wir nicht einmal in Stuttgart", sagt der IRGW-Gemeindedirektor.

Mit Anfeindungen über Jahrhunderte hinweg zu leben gelernt

Wie Rubinstein berichtet, habe sich das Leben der Juden in Deutschland inzwischen wieder "normalisiert", soweit man angesichts von Polizeischutz vor Synagogen, Kindergärten und Schulen davon sprechen könne. Selbst an der Universität Stuttgart hätten jüdische Studenten von offenen Anfeindungen berichtet.

"Wir Juden haben damit über Jahrhunderte hinweg zu leben gelernt", sagt Dr. Nathan Horin, der vor 83 Jahren "als Palästinenser", wie er lächelnd betont, in Tel Aviv zur Welt kam. "Über die Liebe" hat der Zahnarzt nach Heilbronn gefunden. "Eigentlich wollte ich zum 28. Oktober nach Israel zu einer Hochzeit fliegen, aber das mussten wir auf März verschieben." Auch Avital Toren hat Familie in Tel Aviv. "Zunächst war die Sorge unerträglich, aber zwei meiner Enkel wurden inzwischen aus dem Militär entlassen. Und wie gesagt, alle scheinen mit Kriegen und Terror leben gelernt zu haben, überall sind Schutzbunker."

Es ist noch eine andere Sorge, die Toren umtreibt: die Überalterung ihrer Gemeinde in Heilbronn. "Vor 20 Jahren waren wir noch 150, bei Festen war hier alles voll. Heute sind es vielleicht noch 80, Kinder und Jugendlichen fehlen." Die meisten kehrten nach Studium oder Ausbildung nicht mehr zurück, so wie zum Beispiel die drei Kinder von Boris Gelfenboim. "Sie sind in Belgien, der Schweiz, Berlin", sagt der Rentner und wendet sich seiner Nebensitzerin zu, einer älteren Frau, die in Not sei. Während Gelfenboim als Dolmetscher hilft, zeigt Dagmar Bluthardt ein offenes Ohr für die verzweifelte Frau. Die Gemeindehelferin aus Stuttgart und ihre Kollegin hoffen, ihr weiterhelfen zu können. Toren: "Auch das gehört bei uns selbstverständlich dazu."

 

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