"Hallo, ich stottere" - Interview zum Welttag des Stotterns
Anja Herde von einem Selbsthilfe-Verband für Stotternde im Gespräch zu Diskriminierungserfahrungen, zum heutigen Welttag und zum medialen Umgang mit der Srechbehinderung.

Stotternde Menschen sehen sich oft konfrontiert mit Zuschreibungen, die in keinem Zusammenhang mit der Sprechbehinderung stehen. Darunter mangelnde Kompetenz, Unsicherheit oder kognitive Defizite. Aufräumen mit derlei Missverständnissen möchte der Bundesverband Stottern und Selbsthilfe (BVSS). Über die Chancen ihrer Arbeit, die aktuelle Kampagne und warum Joe Biden als mächtigster Stotterer der Welt nur auf den ersten Blick ein Gewinn ist, spricht die BVSS-Bundesvorsitzende Anja Herde.
Frau Herde, was ist für den diesjährigen Welttag des Stotterns besonders wichtig?
Anja Herde: Grundsätzlich bedeutet Welttag des Stotterns viel Pressearbeit und Aufklärung, um Stigmatisierungen aufzubrechen. In der Kampagne "Wortwechsel" geht es darum, Nachdenken über die Verwendung des Wortes "Stottern" anzuregen. Oft "stottern" Personen oder der Wirtschaftsmotor, dabei schwingen Assoziierungen mit: Scheitern, Inkompetenz oder Lügen. So etwas kann sich in den Köpfen festigen. Die Kampagne sucht nach Alternativen, fürs Schreiben: statt "der Motor stottert", lieber "der Motor holpert" oder "ruckelt".
Mit dem Jahresthema "Wortwechsel" wenden Sie sich an Medienleute. Sie geben Gesprächshinweise, wie Nichtstotternde wertschätzend mit Stotternden sprechen sollen. Wichtig ist: Nicht unterbrechen, geduldig sein. Ist das mit Journalisten anstrengend?
Herde: Auch nicht schwieriger als mit anderen Menschen. Klar gibt es Gruppen, da sind Gespräche anspruchsvoller, das sind vielleicht auch Journalisten. Besonders aber gilt das für Anwälte und Unternehmer, die sehr schnell, zackig und effizienzgetrieben sind. Zeit ist Geld, oft ist das dann nicht so leicht. Eigentlich ist es aber eine Frage für den gesellschaftlichen Zusammenhalt: Geben wir uns tatsächlich die Zeit und Geduld, um einander wirklich zuzuhören?
Und? Widmen wir einander die Zeit?
Herde: Durch das Stottern geht das Sprechen nun einmal nicht ganz so schnell. Und das einzufordern ist uns wichtig. Wir sprechen hier von Mensch zu Mensch, wir hören einander zu und entweder, du bist geduldig und interessierst dich dafür, was ich hier zu sagen habe - und zwar für den Inhalt, nicht die Verpackung - oder eben nicht.

Das klingt sehr selbstbewusst, wie ging es Ihnen als Jugendliche und wie kamen Sie zur Selbsthilfe?
Herde: In der Schule habe ich Mündliches durch Schriftliches zu kompensieren versucht, vor Vorträgen habe ich mich gedrückt. Später, zum Studienbeginn, war mir klar, dass ich mich vom Stottern nicht länger aufhalten lassen wollte. Ich hatte Wörter ausgetauscht, wenn ich wusste, dass ich hängen bleiben würde. Das ist mitunter ungünstig, weil man nicht das sagt, was man wollte, sondern irgendein Kauderwelsch rauskam. Über meine Logopädin fand ich zur Stottererselbsthilfe. Das war ein echter Befreiungsschlag für mich. Ich lernte, mich offen zu zeigen, das anzusprechen. An der Uni habe ich das bei Referaten angekündigt, Ansagen gemacht.
Wie meinen Sie das?
Herde: Ich habe gesagt: "Hallo, ich stottere. Wenn ich mal hängen bleibe, nicht wundern, es geht dann weiter!" Ich mache das bis heute, wenn ich merke, es hilft mir, mich sicherer zu fühlen. Damit die Zuhörer gar nicht erst den Gedanken entwickeln, dass ich nicht wüsste, was ich sagen will, unsicher wäre oder inkompetent. Gerade in der Geschäftswelt ist es wichtig zu sagen: "Ja, ich stottere, das bedeutet aber nicht, dass ich aufgeregt bin, sondern das ist ein Teil von mir."
Mit dem Film "The King's Speech" oder auch mit der Präsidentschaft von Joe Biden hat Stottern verstärkte Präsenz in der Öffentlichkeit bekommen. Ein Grund zur Freude für Sie?
Herde: Grundsätzlich finden wir es gut, dass durch Filme oder Personen das Stottern in die Wahrnehmung gerückt wird. Im Falle Bidens ist nur schwer, dass er kaum hörbar stottert.
Warum?
Herde: Es könnte der verkürzte Eindruck entstehen, Biden habe es "geschafft, sein Stottern zu überwinden". Allein das Wort "überwinden". Es könnte sich das Missverständnis festsetzen, man könnte es schaffen, das Stottern verschwinden zu lassen, es läge an einem selbst, so nach dem Motto "Der Biden hat es doch geschafft. Wieso kriegst du das nicht hin?" Auch wenn wir die mediale Aufmerksamkeit begrüßen, ist es uns wichtig, dass Stottern zur Diversität unserer Gesellschaft gehört: Stotternde Menschen dürfen stottern oder sprechen, wie immer sie wollen.
Zur Person
Anja Herde ist seit Ende September Bundesvorsitzende des BVSS, mit 1235 Mitgliedern größter nationaler Interessenverband für stotternde Menschen. Hauptamtlich ist sie in der Entwicklungshilfe tätig, für die Christoffel-Blindenmission mit Sitz in der Schweiz. Sie studierte BWL und anschließend demokratische Schulentwicklung. Die 38-Jährige lebt in Luzern.