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Kriegsende 1945
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Vor 79 Jahren sah es in Heilbronn aus wie heute in Kiew und Gaza

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In den ersten Apriltagen 1945 neigt sich der Zweite Weltkrieg dem Ende zu, auch in Heilbronn, mit erbitterten Straßenkämpfen. Die Ruinenstadt glich damals dem heutigen Gaza und Kiew. Eine Chronologie des Schreckens:

Amerikanische Soldaten auf dem Vormarsch durch die Bahnhofsvorstadt.
Amerikanische Soldaten auf dem Vormarsch durch die Bahnhofsvorstadt.  Foto: Jacobi/Archiv

Lange schien alles in weiter Ferne zu liegen, weit zurück in der Vergangenheit. Doch Bilder aus der Ukraine, aus Israel und dem Gaza-Streifen führen uns den Schrecken plötzlich wieder tagtäglich vor Augen. Es ist noch gar nicht so lange, da sah es auch in Heilbronn so aus, vor genau 79 Jahren.

Der Stadtkern liegt seit dem Bombenangriff vom 4. Dezember 1944 in Schutt und Asche. Bis ins Frühjahr hinein wird die Geisterstadt weiter bombardiert. Anfang April 1945 beginnt ein erbitterter Häuserkampf - mitten in Heilbronn, das damals tatsächlich Gaza und Kiew gleicht.


1945: Kaum noch Leben in der Ruinenstadt Heilbronn

Das öffentliche Leben liegt am Boden. Wasser, Gas, Strom, Telefon - so gut wie nichts funktioniert mehr. Von vormals 14.500 Gebäuden im Stadtgebiet sind 5100 vollständig zerstört, 3800 schwer beschädigt. Von 77.569 Einwohnern (1939) leben noch 33.000 hier; über 6500 kamen am 4. Dezember 1944 ums Leben, andere im Krieg, in Gefangenschaft, in den Konzentrationslagern der Nazis. Manchen gelang die Flucht ins Ausland. In der Kernstadt halten sich im April nur noch 7000 Menschen auf. Die meisten hausen in Baracken und Kellern.

Chronologie des Schreckens

Der sogenannte Endkampf wird vor allem von Alten und Schülern bestritten, hier von Flakhelfern an der nach dem Krieg gesprengten Friedenskirche, heute Friedensplatz.
Der sogenannte Endkampf wird vor allem von Alten und Schülern bestritten, hier von Flakhelfern an der nach dem Krieg gesprengten Friedenskirche, heute Friedensplatz.  Foto: Jacobi/Archiv

Der "Endkampf" dauert fast zwei Wochen. 212 deutsche Soldaten, 60 amerikanische und 64 Zivilisten sterben, 1769 deutsche Kämpfer werden gefangen genommen. Mit der Eroberung Sontheims am 13. April ist der Zweite Weltkrieg in der Stadt de facto zu Ende, in Deutschland erst am 8. Mai: mit der Kapitulation der Wehrmacht.

In Band V der "Chronik der Stadt Heilbronn 1933-1945 ", den das Stadtarchiv erst 2004 veröffentlicht hat, sind die Ereignisse Tag für Tag dokumentiert. Die Einträge lesen sich wie das Drehbuch eines Krimis. Wir geben sie hier gekürzt, redigiert und leicht ergänzt wieder.

Ende März 1945: Ein Strom von Flüchtlingen passiert Heilbronn, vornehmlich Menschen aus Mannheim und Ludwigshafen, also aus Städten, die die US-Army schon eingenommen hat. Die Front rückt schnell näher. In Neckargartach wird der Volkssturm mobilisiert, am Ortseingang sollen Panzersperren aufgestellt werden. NSDAP-Kreisleiter Richard Drauz will die Bevölkerung evakuieren und den Amerikanern nur "verbrannte Erde" hinterlassen, das heißt: Brücken, Kanal- und Industrieanlagen sowie Vorratslager sollen gesprengt werden, wer sich widersetzt, soll erschossen werden. Oberbürgermeister Heinrich Gültig ordnet an, dass im Rathaus über Ostern normal gearbeitet wird. Vor Banken und Lebensmittelgeschäften bilden sich lange Schlangen. Die Bevölkerung macht die letzten "Marsch-Vorratskäufe".

28. März: Das KZ Neckargartach - hier starben in sieben Monaten 295 Menschen - wird geräumt, die Häftlinge werden nach Dachau verlegt, wer noch kann, muss laufen, andere werden auf Züge verfrachtet oder getötet.

US-Soldaten setzen von der Badstraße her am Neckar in die City über.
US-Soldaten setzen von der Badstraße her am Neckar in die City über.  Foto: Jacobi/Archiv

29. März, Gründonnerstag: Über Weinsberger Straße, Oststraße und Sattel rollen deutsche Panzer und Geschütze nach Osten. Abends wird begonnen, Brücken und Schiffe mit Sprengladungen zu versehen. Die Nazi-Zeitung "Heilbronner Tagblatt" erscheint zum letzten Mal.

30. März, Karfreitag: Im Keller der Friedenskirche feiern Gläubige das Abendmahl: mit Wein und Brot, Hostien gibt es nicht mehr. Heilbronn wird zur Festung erklärt. Drauz ordnet die Räumung der Stadt an.

31. März, Karsamstag: Fast den ganzen Tag über heulen Sirenen. Jagdflieger werfen vor allem am Bahnhof Bomben ab und schießen auf alles, was sich bewegt. Ein Flugblatt mit dem Titel "Tod allen Schädlingen" droht Spionen und "ängstlichen Volksgenossen".

1. April, Ostern: Jagdbomber greifen von 9.19 bis 11.56 Uhr ununterbrochen an. Deutsche Truppen bewegen sich in und um die Stadt. Der OB stellt die Kampfgruppe Gültig auf, sie ist einem Ersatzregiment der Wehrmacht unterstellt.

2. April, Ostermontag: Panzer der US-Army erreichen Neckargartach, zwölf Häuser werden zerstört oder beschädigt, elf deutsche Soldaten bei einem Schusswechsel getötet. SS-Männer versuchen, den Altböllinger Hof zu halten. Um 16.30 Uhr werden Teile von Böckingen von der Army besetzt. Ab 18 Uhr beschießt die Artillerie die Kernstadt, um 19 Uhr werden die Bahnhöfe geschlossen. Zwischen 20 und 21 Uhr ziehen sich die deutschen Truppen vom westlichen aufs östliche Neckarufer zurück. Viele Heilbronner sind in den Stadtwald geflüchtet, auf den Gaffenberg, andere in Luftschutzkeller oder in den Bahntunnel. Etliche fliehen mit Leiterwägelchen Richtung Löwensteiner Berge, kehren aber postwendend um: wegen deutscher Militäreinheiten, die ein Verkehrschaos auslösen.

Die Friedrich-Ebert-Brücke wird von Nazis auf dem Rückzug gesprengt.
Die Friedrich-Ebert-Brücke wird von Nazis auf dem Rückzug gesprengt.  Foto: Jacobi/Archiv

3. April: Frühmorgens werden alle noch intakten Neckarübergänge von den Nazis gesprengt. Hafendirektor Georg Vogel kann die Zerstörung des Kanalhafens verhindern. Im Laufe des Vormittags besetzt die Army Böckingen und Neckargartach, wo sich alle kampflos ergeben. Anders in der Kernstadt. Am Abend kommt es bis Mitternacht zu Artillerie-Duellen, wobei die US-Army eindeutig in der Übermacht ist. Drauz lässt in Sontheim Ortsgruppenleiter Karl Taubenberger erschießen, weil er nicht verhindert hat, dass eine Panzersperre abgebaut wird.

4. April: Die letzten deutschen Soldaten setzen ans innerstädtische Ufer des Altneckars über. Die Army stößt zur Bahnhofstraße vor, zieht sich aber wieder zurück und setzt später mit 14 Sturmbooten in Neckargartach ins Industriegebiet über. Das Kraftwerk wird besetzt. Der Kampf ums Salzbergwerk beginnt. Der Bau einer Pionierbrücke bei Neckargartach scheitert, am Wartberg fällt ein US-Spähtrupp den Deutschen in die Hände.

5. April: Nach zweitägigen Kämpfen besetzt die US-Army das Salzbergwerk.

Das Foto zeigt Menschen, die nach einem Fliegeralarm Schutz suchen. Viele fliehen damals auch mit Sack und Pack vor nahenden Soldaten.
Das Foto zeigt Menschen, die nach einem Fliegeralarm Schutz suchen. Viele fliehen damals auch mit Sack und Pack vor nahenden Soldaten.  Foto: Jacobi/Archiv

6. April: Die US-Army überquert am Götzenturm den Altneckar und besetzt die Cluss-Brauerei. Der Kampf um die Kernstadt beginnt. Drauz lässt Hakenkreuzfahnen und Akten verbrennen. Über die Schweinsbergstraße tritt er die Flucht an und entdeckt weiße Tücher, die Anwohner auf Anraten fliehender Soldaten als Friedenszeichen gehisst hatten. Drauz lässt die Häuser stürmen und wahllos losfeuern. Dabei sterben OB-Stellvertreter Karl Kübler, seine Ehefrau Anna, sein Schwager Pfarrer Gustav Beyer und Elsa Drebinger. Andere stellen sich tot und überleben.

7. April: Die Amerikaner besetzen Knorr und die Zuckerfabrik in der Südstadt. Die deutsche Gegenwehr lässt nach.

8. April: Das Büro des Gaswerks wird in Brand geschossen, Rohrnetzpläne für Gas und Wasser verbrennen. US-Panzer donnern über die Kaiserstraße. Auf dem Kiliansturm lauern kanadische Scharfschützen.

10. April: Die Amerikaner haben rund drei Viertel der Innenstadt in ihrer Hand.

12. April: Die Army erobert die Kasernen auf der Fleiner Höhe. Letzte deutsche Spezialtrupps verlassen die Stadt. US-Major Harry M. Montgomery ergreift mit seiner Verwaltungsgruppe offiziell Besitz von der Stadt.

13. April: Sontheim wird eingenommen, Panzer erreichen die Oststadt. Bewohnbare Häuser werden von der Army in Beschlag genommen. Um 17 Uhr wird Vorkriegs-OB Emil Beutinger als OB und Polizeidirektor eingesetzt. Provisorisches Rathaus wird ein Privathaus an der Prager Straße 60, der heutigen Cäcilienstraße. An dem Gebäude wehen Flaggen der USA, Englands und Frankreichs, also der Befreier.

8. Mai 1945: Die Deutsche Wehrmacht kapituliert bedingungslos. Der Zweite Weltkrieg ist offiziell zu Ende, zumindest in Europa.

Die Friedrich-Ebert-Brücke wird von Nazis auf dem Rückzug gesprengt.
Die Friedrich-Ebert-Brücke wird von Nazis auf dem Rückzug gesprengt.  Foto: Jacobi/Archiv
US-Soldaten setzen von der Badstraße her am Neckar in die City über.
US-Soldaten setzen von der Badstraße her am Neckar in die City über.  Foto: Jacobi/Archiv
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Günther Knapp am 06.04.2024 13:08 Uhr

Es ist traurig und kaum zu verstehen, dass aus der deutschen Geschichte mit Diktatur, Nationalsozialismus und Rassismus bereits wieder ca. 20 % unseres Volkes rechten Rattenfängern nachlaufen oder nicht in der Lage sind diese Gefahren zu erkennen. Was wurde versäumt? Als "Alter" lernten ich unsere Geschichte diesbezüglich mit den Gedanken "so etwas darf sich nicht wiederholen!"
Auch daran zu denken wie viele Deutsche den Nazis zujubelten lässt an der Denkweise unseres Volkes zweifeln.
Gottseidank wurden die Nazis damals besiegt und wir bekamen die Chancen eine insgesamt gute Demokratie aufzubauen!

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