100-Jähriger erinnert sich an Bombardierung Heilbronns: "Plötzlich hörten wir ein Dröhnen"
Der heute 100-jährige Erwin Schad hat den Krieg noch wie heute vor Augen. Die Zerstörung der Stadt am 4. Dezember 1944 prägte Heilbronn und ihn für immer.
Der 4. Dezember 1944 - mit den Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten bekommt dieses Datum eine neue Aktualität. Heute vor 80 Jahren, fünf Monate vor Ende des Zweiten Weltkriegs, wird die Heilbronner Innenstadt total zerstört. Mehr als 6500 Menschen kommen bei einem Fliegerangriff der britischen Royal Army ums Leben. Sie verbrennen im Feuersturm, ersticken in Luftschutzkellern, werden von Trümmern erschlagen.
Die Zeitzeugen werden immer weniger, aber es gibt sie noch: zum Beispiel Erwin Schad aus Neckargartach. Vor wenigen Tagen, am 12. November, ist er 100 Jahre alt geworden. "Ich habe alles noch bildhaft vor Augen", sagt er im Stimme-Interview.
Warum waren Sie als 20-Jähriger 1944 nicht als Soldat im Zweiten Weltkrieg?
Erwin Schad: Bei meiner Geburt ist mein linker Fuß abgedreht worden und gebrochen. Die OP missglückte. Der Fuß war anderthalb Jahre im Gips und am Ende kürzer. Ich musste einen Stützapparat tragen, war also gehbehindert. So musste ich nicht zum Kommiss und nicht in den Krieg. Die Behinderung war mein Glück.

Was haben Sie damals gearbeitet?
Schad: Ich habe nach meiner Kaufmanns-Lehre bei Tengelmann in Heilbronn eine Großhandelsabteilung betreut, habe Lieferscheine und Rechnungen geschrieben für Waren, die damals noch lieferbar waren. Ab dem 1. Oktober 1944 hatte ich sogar als 19-Jähriger die Bilanzbuchhaltung für ganz Süddeutschland zu verantworten, die wegen des Krieges von der Zentrale in Mülheim/Ruhr nach Heilbronn verlegt worden war.
Was machten Sie am 4. Dezember 1944?
Schad: Ich habe ganz normal im Büro an der Badstraße gearbeitet. Eigentlich wollte ich um 18 Uhr mit zwei Kolleginnen ins Kino, das haben wir oft gemacht, weil es sonst ja nicht viel gab. Aber eine sagte kurzfristig ab, dann bin ich halt heim gegangen. Das hat mir das Leben gerettet. Denn wir wollten in die Filmbühne, die lag an der Kaiserstraße gegenüber dem Marktplatz.

... mitten im Zielgebiet der englischen Flieger, die um 19.20 Uhr mit der Bombardierung begannen.
Schad: Zum Glück war ich schon daheim in Neckargartach. Wir standen vor unserem Haus an der Adolf-Hitler-Straße 51, also der Frankenbacher Straße. Plötzlich hörten wir ein Dröhnen. Der Nachthimmel war voller Lichterketten. Da haben die Flieger mit sogenannten Christbäumen das Zielgebiet abgesteckt. Wir sind schnell in den Keller. Dann ging es auch schon los: ein 20-minütiges Bombardement. Als es ruhig wurde sind wir raus. Es war fast taghell, man hat alles gesehen. Und wir wussten: Heilbronn brennt!
Was haben Sie dann gemacht?
Schad: An diesem Abend nichts mehr, weil wir ja ahnten, wie gefährlich das ist. Am anderen Morgen wollte ich in die Firma, mit der Straßenbahn, die bei uns vorm Haus gehalten hat. An der Brücke über den Wilhelmskanal an der Kanalstraße blieb sie stehen. Ich lief am Neckar entlang weiter. Nach 200 Metern bin ich auf eine tote Frau gestoßen, die wohl erstickt war. Die Badstraße war mit Trümmern übersät, bis zur Rosenbergbrücke überall Bombentrichter. Tengelmann selbst blieb damals unversehrt. Noch.
Und wie sah es auf der anderen Seite des Neckars aus, also in der Altstadt?
Schad: Ein einziges großes Trümmerfeld. Über Mittag wollte ich ein Paar Schuhe abholen, die ich in der Nähe des Götzenturms zur Reparatur hatte. Aber von der Werkstatt, von dem Haus, von meinen Schuhen keine Spur. Überall nur Trümmer und Rauch. Der Kiliansturm stand noch, sonst war fast alles am Boden. Ich habe gesehen, wie sie Leichen aus den Kellern trugen und mit Lastern abtransportierten, habe mich nicht getraut weiterzugehen. Dann musste ich mit einem alten paar Schuhen über Monate hinweg zurechtkommen. Mein Vater hat sie irgendwann mit dicken Nägeln zu reparieren versucht.

Der Krieg war noch lange nicht vorbei.
Schad: Nein, es gab weitere Fliegerangriffe. Am 20. Januar mitten am Tag. Da wollten wir in den Schutzkeller der Firma Tengelmann in der Badstraße 70. Doch dort hatte die Frau vom Hausmeister ihre Wäsche aufgehängt und wir vier Männer hatten keinen Platz mehr und blieben im Vorraum des Luftschutzraumes. Plötzlich ließ es einen Mords Schlag, alles wackelte, der Putz rieselte von der Decke. Als sich der Staub gelegt hatte, sahen wir, dass die Stahltür des Luftschutzkellers verbogen war. Durch einen Schlitz schauten wir rein: Volltreffer! Von der Wäsche keine Spur, nur kaputte Möbel und Trümmer. Wenn wir dort Platz gefunden hätten, wären wir alle tot gewesen, wie die andern.
Eben deuteten sie an, dass Tengelmann nach dem 4. Dezember doch noch getroffen wurde.
Schad: Ja, am 1. März von Brandbomben. Wir saßen da in einem Bunker des E-Werks. Als es vorbei war, haben wir gesehen: Tengelmann brennt! Mein Chef, Herr Müller wollte mit einem Kraftfahrer Löschwasser aus dem Neckar pumpen. Da folgte eine zweite Angriffswelle. Ich bin mit einem Lehrling über den Zaun zum E-Werk gerannt. Von unserem Chef war später nichts mehr zu finden, nie mehr. Er war wie vom Erdboden verschluckt. Ich nehme an, dass eine Bombe ihn zerrissen hat und die Reste in den Neckar geschleudert wurden.
Grauslig. Ist Ihnen das nicht nachgegangen?
Schad: Nein. Wir waren abgehärtet und abgebrüht. Ich bin sowieso ein Typ, der sich nicht gleich aufregt. Das habe ich von meiner Mutter geerbt. Apropos: Meine Eltern hatten an diesem 1. März von Neckargartach aus gesehen, dass überm Bahnhof Bomben fallen. Sie haben sich Sorgen gemacht und sind in die Straßenbahn gestiegen. Als sie ankamen, waren wir gerade damit fertig, Zigaretten von Reemtsma in einen Lieferwagen zu verladen, 500 oder 600 Zehner-Packungen, die bei Tengelmann für die Wehrmacht eingelagert waren. Wir Helfer bekamen zum Dank jeder einen Karton Zigaretten, den meine Mutter später gegen Lebensmittel eintauschte.
Wie sah damals eigentlich der Alltag aus?
Schad: Es gab kaum noch Läden. Man hat fast alles getauscht. Mein Vater war schwer krank. Ich verdiente 200 Mark im Monat, davon konnten wir leben. Meine Firma war zwar ausgebombt. Aber nebenan war die Wäscherei Angele, die war stillgelegt und musste uns von der Kreisleitung aus Büros zur Verfügung stellen.

Und wann war endlich Ruhe und Frieden?
Schad: Um Ostern rum erreichten die Amerikaner Neckargartach. Meine Mutter hatte vorher geträumt, dass sie einen amerikanischen Soldaten bei der Bäckerei Gmelin auf der Treppe sitzen sah, mit dem Gewehr über den Knien. Als dann beim Kampf um Heilbronn bei uns zwei Häuser brannten, haben wir versucht zu löschen und Möbel zu retten. Am anderen Morgen saß dann tatsächlich ein Amerikaner vor der Bäckerei. Sachen gibt´s! Wir waren froh darüber, haben den bei uns einquartierten vier Soldaten einer Geschützbesatzung Kartoffeln und Zwiebeln gegeben, daraus haben sie Pommes Frites gemacht. Ich konnte Englisch und sie haben mich eingeladen, bei ihnen zu sitzen. Die haben mich fast freundschaftlich behandelt.
Was sagen Sie denn zum neuen US-Präsidenten?
Schad: Nun, der wird in Amerika offenbar anders betrachtet als bei uns.
Wenn Sie heute die Bilder aus der Ukraine und Nahost sehen, was sagen Sie dazu?
Schad: Die Menschheit wird sich nie ändern. Kriege, Verwüstungen Mord und Totschlag hat es schon vor mehr als 2000 Jahren gegeben. Aber das, was wir im Zweiten Weltkrieg erlebten, war wohl das Schlimmste. Ich glaube, die heutigen Kriege werden nicht mehr so gewaltig, weil die Großmächte wissen, dass sie wegen der Atombomben selber dran kaputt gehen würden.
Haben Sie keine Angst vor Putin, wenn Trump die Ukraine im Stich lassen würde, also auch uns?
Schad: Nein. Das habe ich nicht.
Erwin Schad kam am 12. November 1924 in Sontheim zur Welt und wuchs in Neckargartach auf. Eine Behinderung am Fuß bewahrte ihn vor dem Militärdienst. Nach Knabenmittel- und Aufbauschule begann der 16-Jährige eine Kaufmannslehre bei Tengelmann, wo er später als Manager über Heilbronn hinaus in Mülheim/Ruhr, München und Wien tätig war. Mit 55 Jahren kehrte er in die Heimat zurück, machte Plus zum großen Discounter, heiratete 1981 seine langjährige Liebe Lina, die Tochter Ingeborg mit in die Ehe brachte. Hellwach feierte Schad daheim in Neckargartach seinen 100. Geburtstag.