Dieser Keller beheimatet eine verschwundene Diskothek
Wer in den 1970er-Jahren in Heilbronn gepflegt ausgehen wollte, der landete früher oder später in einem Abendlokal namens "Erschte Klass". Die Inneneinrichtung voller Eisenbahn-Nostalgie ist auch heute, 40 Jahre nach der Schließung, noch weitgehend erhalten.
Hier soll sie also sein, die Wiege der Diskothekenszene in Heilbronn. Ein Wohn-und Geschäftshaus mit weiß-grauer Fassade in der Sontheimer Straße, im Erdgeschoss zwei Schaufenster, dazwischen Briefkästen, Klingelschilder und eine Eingangstür. Nichts deutet darauf hin, dass sich hier Anfang der 1970er-Jahre für viele Heilbronner eine neue Welt aufgetan hat. "Diskotheken? Das war etwas ganz Neues", sagt Siggi Schäfer.
Wer mit ihm im Treppenhaus ein paar Stufen hinabsteigt, den Kopf an manchen Stellen einzieht, Heizungs- und Wasserrohre passiert, der landet in einer Räumlichkeit, die nach ihrer Eröffnung dank der "heimeligen Atmosphäre" in der Stimme als "reizvolles, intimes Lokal" beschrieben wurde. Der Clou an der Sache: Die Einrichtung des Abendlokals namens "Erschte Klass" ist auch heute, Jahrzehnte nach der Schließung, noch weitgehend erhalten.

Das Mobiliar hat es in sich. Nachgebaute, deckenhohe Eisenbahnwaggons mit Separees für die Gäste, Sitzbänke mit mal goldenen, mal knallroten Polstern, eine gut zehn Meter lange Theke - zu sehen bekommt das nicht jeder, für den Stimme-Redakteur machen die Besitzerfamilie Reule und Siggi Schäfer, der im Haus nach dem Rechten sieht, eine Ausnahme.
Die Anfänge des Disco-Zeitalters
"Wir waren die ersten in der Gegend, die eine Diskothek professionell aufgezogen haben", betont Werner Reule am Telefon. Als Stimme.de vor ein paar Monaten über die Anfänge des Disco-Zeitalters in Heilbronn berichtete, da wurde die "Erschte Klass" im Artikel nicht erwähnt. Werner Reule, seit vergangenem Jahr in der Nähe seiner Kinder in Berlin wohnhaft, wunderte das. Er nahm Kontakt auf und kramte in seinen Erinnerungen. Höchste Zeit also, die Geschichte nun zu erzählen.
Reules Schwiegervater Karl Strecker betrieb auf dem Areal ein Autohaus mit Tankstelle. 1961 kam das oben beschriebene Wohnhaus hinzu - samt einer Tiefgarage. "Der Architekt hatte dazu gedrängt. Er sagte, dass sie einmal gold wert sei." Ein großer Irrtum, wie Reule berichtet. "Kein Mensch brauchte damals eine Tiefgarage." Als dann ein benachbartes Autohaus als Mieter der unterirdischen Stellplätze wegfiel, da stand die Fläche der späteren "Erschte Klass" leer; die Kreditraten liefen weiter. Nur gut also, dass sich Keller ab der späten 1960er-Jahre auch in Heilbronn anderweitig nutzen ließen - als Treffpunkte für Tanz und Unterhaltung.
In Stuttgart eine Art Vorbild entdeckt
"In Stuttgart gab es seinerzeit in der Theodor-Heuss-Straße das Subway, eine Art Vorbild für uns", erzählt Reule. War das Ambiente dort einer Untergrundbahn nachempfunden, so setzten die Heilbronner Pioniere auf das Motto der alten schwäbischen Eisenbahn. Klar, dass das Lokal deshalb nicht "First Class", sondern "Erschte Klass" heißen musste. Karl Strecker besorgte vom Heilbronner Güterbahnhof Schilder, Lampen und weitere Bahn-Utensilien. Befreundete Handwerker schafften an der Einrichtung, sie bauten Waggons und Sitzgelegenheiten, "wir hatten sogar einen Polsterer", sagt Reule. Die Arbeit ging nach der Eröffnung im August 1972 gerade so weiter. "Wir hatten jeden Abend Halligalli", erinnert sich der heute 88-Jährige.
Da hätte es die eingebaute Telefonzelle gar nicht gebraucht, die noch heute auf der Tanzfläche vor dem DJ-Pult steht. "Damit hätte man seine Kumpels informieren können, ob etwas los sei. Wobei: Hier war immer etwas los, wirklich immer", sagt Siggi Schäfer, der früher selbst Gast war.
Dass dem so war, lag laut Reule an mehreren Faktoren. Das Ganze "professionell aufzuziehen" beinhaltete aus heutiger Sicht Selbstverständlichkeiten, wie ein Logo mit Wiedererkennungswert zu gestalten. Auch bauliche Aspekte gehören dazu - wie die Installation einer Klimaanlage. Damals kein Standard. "Man will doch nicht andauernd mit einem verrauchten Anzug ein Lokal verlassen", sagt Reule dazu. Apropos Anzug. "Wir waren ein gehobenes Lokal."

Dafür sorgte seine inzwischen verstorbene Ehefrau Irmgard, die Cocktails für die Gäste mischte und sich die Kenntnisse bei einem Kurs in der Schweiz angeeignet hatte. Der Renner damals? Tom Collins, ein Gemisch auf Gin-Basis für 5,50 Mark. Und für Ordnung sorgte Reule selbst - als Türsteher. "Anderswo gab es auch Türsteher, die ließen aber jeden passieren. Ich habe mir das Publikum ausgesucht. Dabei muss man mit Köpfchen vorgehen."
Das funktionierte so gut, dass sich gerade auch das weibliche Publikum wohlfühlte. "Bei uns konnten die Mädchen bedenkenlos einkehren. Die Eltern ließen sich ja nicht so ohne weiteres fortgehen. Wenn aber die Rede davon war, dass es in die 'Erschte Klass' geht, dann war es in Ordnung."
Nach mehreren Jahren Betrieb war Schluss
Zum Erfolg trugen laut Reule zudem die monatlich wechselnden Plattenaufleger bei. Für deren Unterbringung hatten die Betreiber ein Zimmer angemietet. "Einmal hatten wir einen attraktiven, dunkelhaarigen Franzosen da, Jacques war sein Name. Wenn die Disco zu war und er des Nachts auf sein Zimmer ging, dann standen die Mädchen unten vor dem Fenster und riefen seinen Namen - bis der Vermieter der Zimmer bei mir anrief und sagte, dass das so nicht geht."

1979 war das Abendlokal schon wieder Geschichte. So heimlich wie es in einem Keller entstanden war, so plötzlich verschwand es auch wieder. "Wir haben die 'Erschte Klass' von heute auf morgen zugemacht, vorher niemanden informiert. Der Trubel war irgendwann zu viel, das Familienleben hat darunter gelitten." Reule erzählt, wie sich Interessenten meldeten, die das Tanzlokal weiterbetreiben wollten. "Wir haben jedes Mal abgelehnt. Man muss bedenken, dass es sich um ein Wohnhaus handelt - Lärmschutz war auch damals schon ein Thema."
Auch ohne Wiedereröffnung blieb das Mobiliar, inzwischen von Staub überzogen, erhalten. Dazu gesellten sich mit der Zeit allerlei Werkzeug, Kartons und anderes Gerümpel, die "Erschte Klass" ist inzwischen eben ein (fast) normaler Keller, der zumindest noch einen weiteren Zweck erfüllt. "Vergangenes Jahr, als es so warm war, habe ich mich gelegentlich hier unten aufgehalten - da war es angenehm kühl", sagt Siggi Schäfer. Und während er sich an die alten Zeiten zurückerinnert, da kommt ihm der Gedanke: "Heute würde man das Lokal in dieser Form garantiert nicht mehr genehmigt kriegen."


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