Langzeitfolgen nach Corona und der lange Weg zur Diagnose
Bei der 48. Abendvorlesung "Medizin hautnah" stellt der Epidemiologe Professor Philipp Wild wissenschaftliche Erkenntnisse vor, räumt mit Vorurteilen auf und sorgt für jede Menge Aha-Erlebnisse. Dabei stehen Langzeitfolgen von Corona im Fokus.

Von Kindern als vermeintliche Infektionstreiber über typische Beschwerden bei Spätfolgen bis hin zu Kollateralschäden der Corona-Pandemie: Bei der 48. Abendvorlesung "Medizin hautnah", einer Kooperation von Heilbronner Stimme, SLK-Kliniken und Kreissparkasse Heilbronn, stellt der Mediziner und Epidemiologe Professor Philipp Wild von der Universitätsmedizin Mainz wissenschaftliche Erkenntnisse vor, räumt mit Vorurteilen auf und sorgt für jede Menge Aha-Erlebnisse. Rund 450 Besucher sind zu seinem Vortrag "Auswirkungen der Langzeitfolgen der Corona-Pandemie für die Bevölkerung" in den Saal unter der Pyramide der Kreissparkasse gekommen.
Ab vier bis zwölf Wochen nach einer Corona-Infektion ist von Long Covid die Rede, erläutert Wild, nach drei Monaten spricht man von Post Covid. Besonders auf Letzteres bezieht sich der Vortrag.
"Je mehr Zeit vergeht, desto mehr gehen die Beschwerden zurück"
Vor allem eine Aussage macht Mut: Die Beschwerden nach einer Sars-Cov-2-Infektion nehmen mit zunehmender Zeitdauer ab. Das sei eine gute Nachricht für Betroffene von Langzeitfolgen, sagt der Professor. "Je mehr Zeit vergeht, desto mehr gehen die Beschwerden zurück." Eine weitere gute Nachricht: Die große Mehrheit der Sars-Cov-2-Infizierten in der Bevölkerung hat die Infektion ohne medizinische Behandlung durchgemacht, also zu Hause in den eigenen vier Wänden. Das macht die seit Ausbruch der Pandemie 150.000 Verstorbenen nicht ungeschehen, betont Wild. Dennoch sei ein milder Verlauf der Normalfall.
Frauen sind häufiger von Post Covid betroffen
Jene, die einen schweren Krankheitsverlauf hatten, haben ein höheres Risiko für Langzeitfolgen, erklärt Wild. Etwa 40 Prozent der wissentlich und unwissentlich Infizierten der Bevölkerung weisen Post-Covid-artige Symptome nach einer Corona-Infektion auf. Das geht aus der Gutenberg Covid-19 Studie hervor, bei der Philipp Wild Sprecher der Studienleitung ist. Mit rund 10.000 Teilnehmern gilt sie als eine der größten und aussagestärksten Bevölkerungsstudien in der Pandemie in Deutschland.
Eine weitere Erkenntnis: Frauen sind mit 46 Prozent häufiger von Post Covid betroffen als Männer (35 Prozent). Worauf das zurückzuführen sei, will Moderator und Stimme-Redakteur Thomas Zimmermann wissen. "Das können wir noch nicht genau sagen. Wir sind gerade dabei, das herauszufinden", sagt Wild. Die Antwort liege aber im weiblichen Hormon- sowie Immunsystem begründet.
Symptome bedeuten nicht gleich Langzeitfolgen
Abgeschlagenheit und Müdigkeit (12,6 Prozent), Geruchsstörungen (12,6 Prozent), Konzentrationsschwierigkeiten (10,3 Prozent), Gedächtnisprobleme (9,2 Prozent) und Geschmacksstörungen (8,8 Prozent) wurden als häufigste Symptome sechs Monate nach einer Infektion mit dem Coronavirus angegeben. Von den unwissentlich infizierten Personen gaben 8,3 Prozent an, an Abgeschlagenheit oder Müdigkeit zu leiden.
Jeder Dritte berichtet zudem, nach einer wissentlichen Sars-Cov-2-Infektion seine Ursprungsleistung nicht wieder erlangt zu haben. "Ruhig Blut, das wird kommen", beruhigt Wild, der während der 90-minütigen Veranstaltung vor allem eine Sache immer wieder betont: Beschwerden bedeuten nicht automatisch Langzeitfolgen. Selbst Menschen, die keine Corona-Infektion durchgemacht haben, äußerten Symptome.
Daher sei die Diagnose eine Ausschlussdiagnose, was wiederum mit einem hohen Aufwand einhergehe. "Erst, wenn alles andere abgeklärt ist und nichts anderes übrig bleibt, geht es weiter in Richtung Post Covid", betont Wild mit Blick auf das "komplizierte Krankheitsbild". Post Covid umfasse eine Vielzahl an Symptomen ohne ein klares, klinisches Muster.
Auswirkungen auf die mentale Gesundheit
Auch die Auswirkungen auf die mentale Gesundheit der Bevölkerung sind Thema. "Die Menschen fühlen sich einsam, depressiv und erschöpft." Das Umfeld beeinflusse das eigene Gesundheitsgleichgewicht. Alles, was Einfluss auf die Seele nehme, habe auch Auswirkungen auf die körperliche Gesundheit. Täglich neue Corona-Regeln, die vom Staat kommuniziert wurden, seien nicht schadlos an den Bürgern vorbeigegangen. Hinzu kommen Probleme wie Klimawandel oder der Krieg in der Ukraine. Wild sagt aber auch: "Vieles ist gut gelaufen, zum Beispiel, dass Deutschland seinen Bürgern so schnell einen Impfstoff zur Verfügung stellen konnte." Gleichzeitig müsse man noch viel lernen.
Kinder als Treiber des Infektionsgeschehens?
Mit dem Vorurteil, dass Kinder Treiber des Infektionsgeschehens gewesen sein sollen, räumt der Epidemiologe dagegen auf. "Kinder reißen die Pandemie nicht", stellt Wild klar. Vielmehr würde die Gesamtzahl der Personen und zu enge Raumverhältnisse eine Infektion mit Corona begünstigen. Je mehr Personen in einem Haushalt wohnen und je weniger Platz pro Kopf zur Verfügung stehe, desto höher sei die Wahrscheinlichkeit, sich zu infizieren. Und: Kinder seien öfters in der Schule getestet worden, weswegen bei ihnen häufiger Infektionen festgestellt wurden.
Ob man die generellen Schäden und Kosten für die deutsche Gesellschaft abschätzen könne? Jahre bis Jahrzehnte könne das dauern, entgegnet Wild. "Es gibt Hochrechnungen, aber alle sind wage." Klar für den Epidemiologe ist, dass es einen Kostenfaktor geben wird, "wenn wir wissen, wie viele Menschen es mit Post Covid gibt".


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