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9. November 1938: Als in Heilbronn der braune Mob zu wüten begann

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Diesen Montag jährt sich die Reichspogromnacht gegen jüdische Mitbürger am 9. November 1938. In Heilbronn findet die Gedenkfeier wegen Corona nur im kleinen Kreis statt.

 Foto: stadtarchiv

Vor 82 Jahren, am Mittwoch, dem 9. November 1938, brannten in Deutschland die Synagogen. Jüdische Bürger wurden drangsaliert, geschlagen, ihre Geschäfte zertrümmert. In Heilbronn wurde die Synagoge erst in der Nacht auf Donnerstag in Brand gesteckt. Die von der NSDAP angestifteten Verbrechen, zynisch "Reichskristallnacht" genannt, gingen in die Geschichte als Reichspogromnacht ein. Der 9. November 1938 markiert den Beginn der Vernichtung von mehr als sechs Millionen jüdischen Menschen in KZs.

Text des Redners nur online

In Heilbronn findet an diesem Tag seit Jahren eine Gedenkfeier am Synagogen-Denkmal statt, wegen Corona diesmal nur im kleinen Kreis. Oberbürgermeister Harry Mergel und Avital Toren als Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde legen einen Kranz nieder. Der als Redner vorgesehene frühere Stadtrat und Stimme-Lokalchef Gerd Kempf wird seinen Text mit einer Videobotschaft des OB abends auf der Seite www.heilbronn.de veröffentlichen.

Appell gegen heutigen Rassismus

Der katholische Dekan Roland Rossnagel mahnt, in einer Mitteilung, aufmerksam zu sein: "damit nicht wieder eine Gruppe von Menschen, besonders nicht wieder Juden, zum Sündenbock für alle gegenwärtigen Probleme gemacht wird". Rassisten griffen fast täglich Flüchtlinge an, so der Dekan, demütigten Menschen mit Immigrationshintergrund, grenzten sie aus. Gleichzeitig nähmen viele wieder an fremdenfeindlichen Demonstrationen teil.

Dagegen will das Dekanat mit dem Projekt "Aufstehen gegen Rassismus" Gläubige ermutigen, sich gegen Rassismus stark zu machen. Dabei sollen Präventionsmaßnahmen entwickelt und Gläubige "in ihrer Argumentationsfähigkeit bei Stammtischgesprächen" gestärkt werden. Denn: "Mit dem Wachhalten und der Prävention kann die Wiederholung menschenverachtenden Verhaltens vermieden werden."

Professor Schrenk lichtet die Schleier

Über der Heilbronner Pogromnacht lag lange ein Schleier, weiß Stadtarchiv-Direktor Dr. Christhard Schrenk, der die Ereignisse akribisch recherchiert hat. Um welche Uhrzeit wurde der Brand gelegt? Wie heißen die Brandstifter? Wusste die Feuerwehr Bescheid, tat sie zu wenig? Wo sind die Kultgegenstände geblieben?


Viele Fragen blieben lange offen, andere sind es noch: Weil man nach dem Krieg vieles verdrängte, weil Dokumente verbrannten. Das nationalsozialistische "Tagblatt", ein geschmackloses Gedicht eines Feuerwehrmannes und selbst Prozessakten lassen vieles im Unklaren, spätere Zeitzeugenberichte sind oft durch spätere Infos überlagert.

Tagebuch des Emil Beutinger erst 2018 geöffnet

Erst 2018 hat das Stadtarchiv Heilbronn das Tagebuch des 1933 von den Nazis entmachteten Oberbürgermeisters Emil Beutinger (1875-1957) öffentlich gemacht. Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes lag es lange unter Verschluss. Der Text bestätigt Professor Schrenks akribische Recherchen. Trotzdem bleiben offene Fragen.

Hier leicht redigierte und gekürzte Auszüge aus Beutingers Tagebuch: "Am 10. November brannte morgens die Synagoge ab. Um 7.15 Uhr war die Kuppel eingestürzt und es brannte im Inneren weiter - Brandstiftung, denn gleichzeitig brannten alle Synagogen in Deutschland, mit ganz wenigen Ausnahmen. Um halb 4 Uhr morgens ertönten einige schwere Schläge wie Kanonenschläge, das waren Brandbomben. Die Feuerwehr sah untätig zu. Es war ,die Rache des Volkes" über den Mord an dem Botschaftsrat vom Rath in Paris.

Nachmittags um 4 Uhr wurde ich telefonisch gewarnt, nicht nach Hause zu gehen - ich würde überfallen werden. Ich befolgte den Rat und fuhr ohne jedes Gepäck, so wie ich gerade im Büro war, nach Stuttgart.

In der Nacht hatte man Schaufenster der Judengeschäfte eingeschlagen, Auslagen demoliert. Es sah schauderhaft aus. Auf den Gehwegen lagen in hohen Haufen Scherben. Der Mob vergnügte sich noch am Donnerstag abends, Steine in die offenen Fenster zu werfen. Aber die Masse der Bevölkerung stand ablehnend diesem Treiben gegenüber. Einzuschreiten getraute sich niemand - ebenso wenig wie die Polizei, welche teilnahmslos zusah. Wer aber gegen die Sache etwas zu äußern wagte, wurde verhaftet. Alle erwachsenen jüdischen Männer unter 60 Jahren wurden verhaftet und ins Konzentrationslager gebracht. Ob man dorthin auch Frauen brachte, weiß ich noch nicht."

 
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