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9. November
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Heilbronner Pogrom gegen Juden von 1938 mit vielen offenen Fragen

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Der NS-Terror mit dem Synagogenbrand und Pogrom vom 9. und 10. November 1938 ist in Heilbronn bis heute nicht vollständig aufgeklärt. Welche Fragen offen sind. 

Schaulustige vor der niedergebrannten Synagoge an der Allee 4. Aufgenommen am 10. November 1938 gegen 8.40 Uhr von Fritz Walderich.
Schaulustige vor der niedergebrannten Synagoge an der Allee 4. Aufgenommen am 10. November 1938 gegen 8.40 Uhr von Fritz Walderich.  Foto: Fritz Walderich

Eine Thorarolle lagert in Baltimore. Ein Schächtmesser mit Scheide, Scherben und andere Fragmente sind im Otto-Rettenmaier-Haus ausgestellt. Im Botanischen Obstgarten hat man Synagogensteine kurzerhand zu Fundamenten umfunktioniert. Und an der Allee 4, dem ehemaligen Standort, erinnert ein angekohlter Sandstein an die zerstörte Synagoge von Heilbronn.

Fragmente, nicht viel mehr. Das ist von dem Gotteshaus der einst 380 Mitglieder starken jüdischen Gemeinde übrig geblieben. Das 1873 bis 1877 errichtete Gebäude wird in der Architekturgeschichte als Höhepunkt der neo-orientalischen Stilphase im Synagogenbau angesehen. Es war so schön, dass es der Staat Israel 1988 verewigte: auf einer Briefmarke „50 Years after Kristallnacht“.

Heilbronner Synagoge angezündet: Namen der Täter nie veröffentlicht

Neuere und ältere Quellen zu Gebäude und Gemeinde gibt es viele, verlässliche Quellen zur Pogromnacht kaum. Sie werfen bis heute viele Fragen auf: das propagandistische braune „Tagblatt“, ein geschmackloses Gedicht eines Feuerwehrmannes, Prozessakten der Nachkriegszeit. Wer das Feuer gelegt hat? Die Namen der acht Täter wurden nie veröffentlicht, obwohl sie angeblich zum Teil bekannt sind.

Die Journalisten Hans Franke (1963) und Uwe Jacobi (1988) tauchten tief in die Materie ein. 1992 beleuchtete Stadthistoriker Christhard Schrenk in einem grundlegenden Aufsatz die Chronologie der Pogromnacht. Die erst 2001 erschienene „Chronik der Stadt Heilbronn 1933-1938“ lieferte dazu kaum Neues, ebenso der Band „Jüdisches Leben in Heilbronn“ (2022).

Rätsel um Datierung der Heilbronner Pogromnacht von 1938

Die Erinnerung von Zeitzeugen ist vom Schleier der Vergangenheit – und von der Verdrängung – getrübt. Selbst zur Datierung gibt es unterschiedliche Aussagen. Sie sorgen immer wieder für Irritation. Zur offiziellen Geschichtsschreibung: Vor 75 Jahren, also am 9. November 1938, brennen in Deutschland 1300 Synagogen.

Auf dem Heilbronner Synagogengedenkstein an der Allee 4 ist jedoch der 10. November vermerkt: weil das Gotteshaus erst in den frühen Morgenstunden des 10. Novembers in Brand gesteckt worden sei. Davon gehen Historiker bis heute aus.

Auch davon: Die zweite Etappe der Pogromnacht, also die Plünderung jüdischer Geschäfte, Wohnungen, ja, sogar eines Altersheims, und die Erniedrigung der Bewohner, setzt in großem Umfang erst in den Abendstunden ein. Im Schutz der Dunkelheit.

Das Postamt an der Heilbronner Allee steht bis heute heute. Die wunderbare Synagoge wurde von den Nazis zerstört.
Das Postamt an der Heilbronner Allee steht bis heute heute. Die wunderbare Synagoge wurde von den Nazis zerstört.  Foto: Stadtarchiv Heilbronn

Dazu gibt Schrenk folgende Erklärung: Der reichsweite Aufruf zum „spontanen Volkszorn“ von NS-Propagandaminister Goebbels geht in der Käthchenstadt mit Verspätung ein, erst gegen 23.30 Uhr. NSDAP-Kreisleiter Richard Drauz bringt zudem eine Art „Schutzgeld“ ins Spiel: Er würde die Synagoge verschonen, weil er um das Ansehen Deutschlands in der Welt fürchte, heißt es. Drauz kann sich gegenüber höheren Parteistellen nicht durchsetzen: So gibt es zumindest ein Anwalt später zu Protokoll. Ob er überhaupt in Heilbronn war, ist bis heute offen.

Heilbronner Pogromnacht: Was Passanten und Nachbarn gesehen oder gehört haben

Zurück zur Datierungsfrage: Nächtliche Passanten und der Frauenarzt Wilhelm Kahleyss, dessen Villa neben der Synagoge stand, hören gegen 1 Uhr verdächtige Geräusche, „wie das Klappern von Benzinkanistern“. Angeblich hat der Doktor sogar einen Lichtschein gesehen. Er ruft die Feuerwehr an. Die winkt zunächst ab.

Gegen 5 Uhr hören Nachbarn zwei Explosionen, gegen 6 Uhr ist das Feuer von der Allee aus zu sehen. Oder? Andere sagen: um 7 Uhr. Fest steht: Um 8.42 Uhr ist die Kuppel zerstört. Ein Foto mit der Uhr des benachbarten Postamtes zeigt es.


Nach der sogenannten „Reichskristallnacht“ kehren immer mehr Heilbronner Juden ihrer Heimatstadt den Rücken. 1938 sind es 150, 1939 folgen 159. Meist flüchten sie in die USA und nach Großbritannien. Das Rathaus kauft gleichzeitig jüdische Anwesen zu Spottpreisen auf. Die israelitische Kultusgemeinde wird im August 1939 offiziell aufgelöst.

Bei Kriegsbeginn werden die meisten noch in Heilbronn lebenden Juden in zwölf „Judenhäuser“ eingewiesen und zur Zwangsarbeit verpflichtet. Bis 1945 ermorden die Nazis auf offener Straße und in KZs 234 jüdische Heilbronner, 600 gelingt die Flucht. Ihre Geschichte ist noch nicht zu Ende geschrieben.


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