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Möglichst schnell wieder daheim statt im Heim

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Bundesweit einmaliges Projekt des Heilbronner Jugendamts legt Fokus auf Zusammenarbeit mit den Eltern, damit das Familienleben zuhause wieder gelingt

Intensive Gespräche mit der Familie: Für Alessa Kasprzik und Fabian Steigleder ein wichtiger Schlüssel zum Erfolg. Foto: Ralf Seidel
Intensive Gespräche mit der Familie: Für Alessa Kasprzik und Fabian Steigleder ein wichtiger Schlüssel zum Erfolg. Foto: Ralf Seidel  Foto: Seidel, Ralf

Ich hab’ gesehen, dass meine Mutter nicht mehr meine Mutter ist. Eva spricht leise, aber mit fester Stimme. Ein zartes Mädchen, mit langen braunen Haaren. Ihr Name und der ihrer Mutter sind von der Redaktion geändert. Vor rund zwei Jahren hat sie sich selbst beim Jugendamt gemeldet. Sie wollte raus aus der Familie. Inobhutnahme lautet der Fachbegriff, wenn Kinder bei staatlichen Stellen Zuflucht finden. Meist passiert es, wenn sie daheim nicht mehr sicher sind. Bei Eva war das anders.

„Ich bin gegangen, damit sie geht“, sagt sie. Damit sich die Mutter vom Stiefvater trennt, dessen psychische Gewalt sie niedergedrückt hat. Seine Manipulationen. Sein Narzissmus. Jahrelang hatte sie den Gedanken mit sich herumgetragen. „Seit der 5. Klasse ging das so. In der 9. habe ich es schließlich hingekriegt.“ Zwar hatte auch die Mutter gespürt, dass die Beziehung schon lang in Schieflage geraten war, „aber die Angst war viel größer als der Mut“. „Furchtbar“ sei es für sie gewesen, als ihr Kind plötzlich weg war. Susanne M. schüttelt den Kopf. „Es hat mir das Herz herausgerissen“. Zumal sie zunächst nicht weiß, wo sie ist, und sich große Sorgen macht. 

Projekt des Heilbronner Jugendamts: Kontakt zu den Eltern bleibt eng

Nach einiger Zeit in der Inobhutnahme startete das Aufnahmeverfahren in der Wohngruppe „Leo“. Leo arbeitet nach einem innovativen Konzept, das Baden-Württemberg-weit einmalig ist. Es nennt sich Hilfen über Tag und Nacht, kurz HüTN. Die Idee: Die Jugendlichen sind zwar in einer Wohngruppe, der Kontakt zu den Eltern und deren Einbindung in das Leben ihrer Kinder bleibt aber recht eng. Ein Umstand, der in anderen Wohngruppen so nicht unbedingt gegeben ist.

Väter und Mütter sollen dabei gestärkt werden, die Familiensituation besser zu meistern, bekommen viel Hilfe bei der Erziehung. Während sonst der Fokus auf der Hilfe für den jungen Menschen liegt, bekommen jetzt auch die Eltern Unterstützung. Zudem bleibt die Bezugsperson des Jugendamts möglichst konstant. Üblicherweise ist eine Wohngruppe des Jugendamts durch viele verschiedene Jugendämter belegt und mit vielen Fachkräften des sozialen Dienstes in Kontakt. Susanne M. stimmte schließlich zu. „Ich wusste, dass das ein Konzept ist, das vorsieht, dass sie wieder zu mir darf.“ 

Denn die Tochter will durchaus in der Wohngruppe sein, sie schätzt die Rückzugsmöglichkeit, das Zimmer für sich allein. Die Bindung zur Mutter ist zu jedem Zeitpunkt eng, auch wenn sie sagt: „Ich kann nicht ohne sie, aber manchmal wird sie mir zu viel.“

Mutter und Tochter üben, auch über schwierige Dinge zu reden

Die Reflektionsgespräche mit Bezugsbetreuern sind so mühsam für die Tochter, dass Alessa Kraspzyk, stellvertretende Fachbereichsleitung der St. Josefspflege, sie als  „Tür- und Angelgespräche“ bezeichnet. „Es hieß immer: „In fünf Minuten geht der Bus“, erinnert sie sich schmunzelnd. Mutter und Tochter lernen mit externer Hilfe auch über schwierigere Dinge zu reden, die Tochter übt, Grenzen zu setzen. „Jetzt kann ich deutlich sagen: Das mag ich nicht.“ Denn weil der Altersunterschied nicht groß ist, ist das Thema Freundschaft versus Mutterrolle sehr dominant, rutscht die Tochter teils ungewollt in die Rolle der Vertrauten, des Partners.

Umgekehrt lernt die Mutter, gut zuzuhören, mehr für Eva da zu sein. „Vorher hatten wir ihn im Nacken sitzen“, sagt sie und meint den Vater ihrer vier kleineren Kinder. Sie alle im Blick zu haben und trotzdem auf sich zu achten, das ist ein Drahtseilakt. Sie versucht, die eigenen Bedürfnisse nicht zu vergessen, genug zu essen, besonders jetzt, wo sie schwanger ist. Und regelmäßig eine Pause einzulegen.

Die beiden Frauen profitieren von der Flexibilität des Konzepts. Bis abends um 22 Uhr kann sich Eva überlegen, wo sie übernachten will. Gemeinsam mit der ambulanten Fachkraft Isabelle Schneider vergegenwärtigen sie sich, wie viel sie schon geschafft haben auf dem Weg zu einem guten Miteinander. Neben der intensiven Einbeziehung der Eltern ist es auch Ziel des Konzepts, dass die Heranwachsenden möglichst in ihrem Umfeld bleiben und nicht weiter weg untergebracht sind. Sondern in ihrer Lebenswelt, der Schule, bei den Freunden. Eva jedenfalls, hat ihre Freunde auch in die Wohngruppe eingeladen und aus ihrer Situation kein Geheimnis gemacht.

Ab und zu passiert es noch, dass sie von der Schule abgeholt werden musste, weil es ihr psychisch nicht gutging. Doch im Sommer fängt sie eine Ausbildung als Verkäuferin an, den Realschulabschluss hat sie in der Tasche. „Mit besseren Noten als im vergangenen Jahr“, sagt die Mutter und führt das auch auf die gemeinsamen Fortschritte zurück. Dankbar ist sie dafür, dass ihre Tochter ihr viel erzählt, „wir reden oft“. „Sie hat einen Freund, sie ist ein ganz normaler Teenager.“ 

Heilbronner Jugendamt sucht dringend Bereitschaftspflegefamilien

Nach der Zeit in der Wohngruppe schließt sich eine Nachbetreuung an, die drei bis sechs Monate andauert. Auch das ist bei der klassischen stationären Unterbringung nicht üblich. Anschließend greift bei HüTN noch die sozialpädagogische Familienhilfe, die etwa sieben Stunden die Woche im Alltag unterstützt. Auch gesetzliche Dinge wie Sorgerecht und die Aufgaben getrennt lebender Eltern sind hier Thema. Dringend sucht das Jugendamt Heilbronn Bereitschaftspflegefamilien, die in Notfällen für bis zu zehn Wochen Kinder bis zu zwölf Jahren bei sich aufnehmen. 




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