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Rolle von Rektoren und Eltern
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Bildungsexperte John Hattie in Heilbronn: "Verschwendung von Talenten durch System der Abgrenzung"

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Der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie spricht in Heilbronn über die Rolle von Lehrern und Eltern und die Fehlerkultur in Klassenzimmern. Was sich laut des Experten ändern muss. 

Der Bildungsexperte John Hattie spricht beim ersten Schulleitungssymposium in Heilbronn. Er hat eine klare Haltung zum mehrgliedrigen Schulsystem.
Der Bildungsexperte John Hattie spricht beim ersten Schulleitungssymposium in Heilbronn. Er hat eine klare Haltung zum mehrgliedrigen Schulsystem.  Foto: Christiana Kunz

John Hattie gilt als einer der führenden Bildungsexperten. Der gebürtige Neuseeländer befasst sich vor allem mit der Frage, welche Faktoren den Lernerfolg beeinflussen. Bekannt wurde der Professor für Erziehungswissenschaften und Direktor des Melbourne Education Research Institute an der University of Melbourne durch sein 2008 erschienenes Buch „Visible Learning“.

Vor dem ersten landesweiten Schulleitungssymposium bei der Akademie für Innovative Bildung und Management (AIM) in Heilbronn spricht Hattie über die Rolle von Eltern und Rektoren, aber auch über Schulen, die den Einsatz von KI im Unterricht bremsen. 

Wie beeinflussen Schulleitungen den Lernerfolg der Kinder?

John Hattie: Es ist sehr schwer, eine großartige Schule ohne einen großartigen Schulleiter zu finden. Es ist aber sehr einfach, eine schlechte Schule mit einem schlechten Leiter zu finden. Die Führung ist von enormer Bedeutung.

Warum?

Hattie: Es geht um das Klima und die Kultur in jeder Klasse. Die Schulleitung ist für die Kultur und das Klima in der Klasse und in der gesamten Schule verantwortlich. Der Hauptgrund, warum Kinder in die Schule kommen, ist das Lernen. Wir hingegen reden immer nur über das Lehren. Die Kinder interessieren sich nicht dafür, wie wir unterrichten. Sie interessieren sich dafür, wie sie lernen können. Kein Kind in Deutschland kommt zur Schule, um das zu lernen, was es weiß. Es geht darum, was sie nicht wissen. Sind Fehler willkommen? In so vielen Klassen sind sie es nicht.

Was bedeutet das?

Hattie: Kinder lernen sehr schnell im Alter von sieben oder acht Jahren, dass man, wenn man nichts weiß, so tun sollte, als ob man es wüsste. Und das ist kein gesundes Klassenzimmer. Deshalb müssen wir schauen: Was passiert, wenn Kinder Fehler machen? Wird das als Chance gesehen? Oder wird es als peinlich empfunden?

Sind Schulleiter also Vorbilder?

Hattie: Ja, sie müssen das Vertrauen im Lehrerzimmer aufbauen und dafür sorgen, dass es auch im Klassenzimmer funktioniert.

Kinder wollen Neues lernen. Bei der internationalen Vergleichsstudie Pisa kommt Deutschland aber nicht voran. Was läuft schief?

Hattie: Die Verschwendung von Talenten durch das System der Abgrenzung von Kindern in der Schule ist groß. Wenn man sie einmal in eine bestimmte Schule gesteckt hat, werden ihnen nur bestimmte Stufen angeboten. Deutschland erfindet ständig neu, was es in den vergangenen 20, 30 Jahren hatte, so dass sich die Pisa-Ergebnisse nie ändern werden. Im Alter von elf, zwölf Jahren entscheidet sich, ob Kinder später als Erwachsene erfolgreich sein werden. Das ist eine harte Aussage, aber es tut mir leid: Das ist es, was ich sehe.

Wie sieht es in anderen Ländern aus?

Hattie: Ich schaue mir Länder auf der ganzen Welt an, die nicht so stark abgegrenzt sind. Manche Kinder machen mit 13 oder 14 Jahren dramatische Lernfortschritte. In Deutschland können sie es nicht. Es sei denn, sie besuchen das Gymnasium. Wegen Pisa sind wir mittlerweile von Mathematik und Lesen besessen. Manchmal vergessen wir, dass viele Kinder wegen anderer Bereiche in die Schule kommen. Und in diesen anderen Bereichen wie Musik, Sport, Kunst und Naturwissenschaften werden die Ergebnisse in der Regel nicht anhand von Pisa bewertet. Müssen Kinder lesen und schreiben? Ja, denn später muss es angewendet werden. Aber manche Kinder verstehen es nicht beim ersten Mal, dann gibt es keine zweite oder dritte Chance. Wenn man es also nicht beim ersten Mal schafft, hat man ein Problem. Deshalb bin ich sehr für Programme, die Neun-, Zehn- oder Elfjährigen weitere Chancen geben. Die sollten systematisch in das System eingebaut werden.

Welche Rolle spielen Eltern?

Hattie: Eltern sind nicht die ersten Lehrer. Das haben wir während Corona herausgefunden. Viele Eltern konnten nicht unterrichten, hatten nicht die nötigen Fähigkeiten und dachten, ihre Kinder seien motiviert. Aber Lernen ist anstrengend – im positiven Sinn. Manche Eltern sahen, wie sich ihre Kinder abmühten, und dachten, sie hätten Probleme. In Wirklichkeit haben sie einfach richtig gelernt. Wir wissen: Je mehr die Eltern in die Schulbildung einbezogen werden, desto negativer sind die Auswirkungen. Ich möchte aber, dass sich Eltern mit ihren Kindern an Lernaktivitäten beteiligen. Das hat nicht unbedingt etwas mit der Schule zu tun.

Sondern?

Hattie: Herausforderungen und Aufgaben im Haushalt, Herausforderungen und Aufgaben am Wochenende. Den Kindern zeigen, dass Scheitern zum Lernen gehört, dass Fehler eine Chance sind, sich darüber klar werden, wie Erfolg aussieht.

Welche Rolle spielen Lehrer?

Hattie:Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern sind wichtig. Genauso wichtig ist aber, dass Lehrer eine gute Beziehung zwischen den Schülern aufbauen. Kinder können ziemlich gemein zu anderen Kindern sein. Das Ziel von Beziehungen ist ein hohes Maß an Vertrauen, damit Fehler willkommen sind. Wenn ich also in ein Klassenzimmer gehe, frage ich die Schüler: Was macht ihr, wenn ihr etwas nicht wisst? Und fast jedes Kind sagt dann: "Ich frage den Lehrer." Aber sie tun es nicht. Die einzigen Kinder, die die Lehrer fragen, sind die, die die Antwort wissen oder glauben, sie zu wissen.

Und jetzt kommt noch Künstliche Intelligenz (KI) in den Unterricht. Ein richtiger Schritt, auch wenn Technik keine Beziehung aufbauen kann?

Hattie: KI wird dramatische Veränderungen mit sich bringen, und wir haben die Möglichkeiten noch gar nicht gesehen. Aber trotz des unglaublichen technologischen Wandels hat sich die Effektivität der Bildung nicht verändert, es hat sich nur die Effizienz verändert. Unterschätzen Sie nicht die Macht der Schulen, die Innovation durch KI aufzuhalten. Ich denke, das ist traurig.

Worauf kommt es also an?

Hattie: Erstens: Wie können wir Lehrer dazu bringen, KI effizienter zu nutzen? KI kann einen Unterrichtsplan so viel effizienter und besser erstellen als jeder Mensch. Zweitens, welche Fähigkeiten braucht man, um KI zu nutzen? Dafür muss man wissen, wie man beweiskräftige Fragen stellt. Lehrer stellen zwei- bis dreihundert Fragen pro Tag, die man mit weniger als drei Wörtern beantworten kann. 

So wenig?

Hattie: Ja. Wie viele Fragen stellt eine Klasse pro Tag zur Arbeit, die sie nicht versteht? Zwei. Wir lehren also nicht, Fragen zu stellen. Aber das sollten wir. Ich denke, dass wir den Kindern Qualitätskontrolle beibringen müssen. Aber ich bin optimistisch, denn ich glaube, dass die Leistung der KI unglaublich ist. Sie hat ein paar Nachteile, aber die positiven Seiten sind enorm.

Klassen werden immer heterogener. Wie beeinflusst die Zusammensetzung von Klassen die Lernerfolge?

Hattie: Arbeitgeber verlangen heute Übersetzer und Kommunikatoren. Sie wollen Menschen, die mit anderen sprechen können, egal wie unterschiedlich Menschen sind. Die Tatsache, dass Klassen vielfältig sind, ist für mich also eine große Chance und eine großartige Aussage über die Zukunft in Deutschland. Aber wir können nicht länger ignorieren, dass Sprache bei Migranten ein Problem ist. Je schneller Kinder auf Deutsch unterrichtet werden, desto besser ist das für einige Lehrer. Aber ich sehe das anders, wir sollten die Vielfalt als großen Bonus ansehen. Deshalb müssen wir unseren Kindern beibringen, wie man kommuniziert, wie man übersetzt, wie man zusammenarbeitet.

Wie kann das konkret aussehen?

Hattie: Schauen wir beispielsweise auf Abschlussprüfungen wie das Abitur. Das müssen die Jugendlichen allein schreiben. Ich finde, dass Bestandteile davon als Gruppenarbeit gemacht werden sollten, wo es eine Note für die Gruppe und eine Note für jeden einzelnen in der Gruppe gibt. Denn das ist es, was die Arbeitgeber verlangen. Und niemand hilft Arbeitgebern, wenn man die Kinder denken lässt, dass sie es allein schaffen müssen. 

Glauben Sie wirklich, dass sich unser Schulsystem ändern kann?

Hattie: Das muss es.

Zur Person

John Hattie gilt als ein Pädagogik-Weltstar. Im Jahr 2008 veröffentlichte der neuseeländische Bildungsforscher das Buch „Visible Learning“ („Lernen sichtbar machen“). Es ging um: Was ist guter Unterricht? Dafür untersuchte er alle auf Englisch erschienenen Studien, die sich mit den Bedingungen schulischer Leistungen beschäftigt hatten.


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