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Supervisorin Juliane Roth: „Wie viel Schmerz kann ich mir anschauen?“

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Juliane Roth ist die wohl einzige hauptberufliche Supervisorin im Landkreis Heilbronn. Sie weiß, was Teamarbeit effektiver macht.

Juliane Roth findet in Gruppensitzungen heraus, was das Handeln der Menschen bestimmt. Die Supervisorin hilft ihnen, ihre Arbeit zu reflektieren und zu verbessern.
Juliane Roth findet in Gruppensitzungen heraus, was das Handeln der Menschen bestimmt. Die Supervisorin hilft ihnen, ihre Arbeit zu reflektieren und zu verbessern.  Foto: Seidel, Ralf

Juliane Roth ist Supervisorin. Pro Woche betreut die 48-Jährige fünf bis acht Gruppen. Was sie in ihrer Ausbildung und Arbeit über die Antriebskräfte menschlichen Handelns gelernt hat, erzählt die diplomierte Sozialpädagogin im Interview.

Supervision – was steckt dahinter?

Juliane Roth: Es ist eine Form von Beratung. Das Wort bedeutet übersetzt „darüber schauen“. Ein Supervisor nutzt, dass er außerhalb des Systems steht. Er versucht, sich als Externer einen Überblick zu verschaffen, was darin passiert, um dann das Team oder die Gruppe zu unterstützen.

Was ist der Unterschied zur Gruppentherapie?

Roth: Bei einer Therapie geht es darum, dass jemand Krankes gesund wird, in der Gruppe bespricht man dann einzelne Erfahrungen. Die Supervision findet hingegen immer im Arbeitskontext statt. Wo beides ähnlich ist: dass die Gruppe unterstützend genutzt wird.

Sie treffen pro Woche fünf bis acht Gruppen. Was sind das für Teams?

Roth: Sie kommen vor allem aus dem sozialen Bereich: Betreutes Wohnen, Wohngruppen, Psychiatrie. Ich habe viele ehrenamtliche Teams wie etwa Hospiz, Stadtkirche, Schulsozialarbeit ...

Alle aus dem sozialen Bereich!

Roth: Ich glaube, es liegt daran: Die anderen kennen das nicht (lacht). Denn eigentlich ist Supervision ein total gutes Instrument in allen Bereichen, wo Menschen zusammenarbeiten. Das würde für viele Teams zu Entlastungen führen.

Also eigentlich auch in Wirtschaftsunternehmen.

Roth: In der privaten Wirtschaft gibt es eher Klausurtagungen mit Teams, wenn man die Mitarbeiter bei einem Change-Prozess mitnehmen will. Also bei einer geplanten Veränderung, um das Unternehmen an neue Bedingungen anzupassen. Das sind dann interne Veranstaltungen. Die sind für Firmen günstiger als Supervision.

Da werden eher firmeneigene Interessen verfolgt.

Roth: Ja. Dabei finde ich eines so wichtig bei der Supervision: dass sie extern und nicht verbandelt ist mit irgendwas da drin, weil sie keine eigenen Interessen und Bedürfnisse hat. Der Supervisor ist wirklich frei, von außen drauf zu gucken. Das bist du nicht, wenn das dein Arbeitgeber ist.

Was haben Ihre Gruppen gemeinsam?

Roth: Es gibt die Fallsupervision und die Teamsupervision. Bei der Schulsozialarbeit etwa oder der sozialpädagogischen Familienhilfe, da gibt es die Gemeinsamkeit, dass die Fälle haben, bei denen sie Menschen begleiten. Das ist ein großes Thema: Wie viel muss ich helfen oder unterstützen, und was ist zu viel? Also, wann nehme ich den Menschen Selbständigkeit weg, wann muss ich aber eingreifen? Das ist oft eine Gratwanderung. Und noch ein Thema, das mich total berührt: Wieviel Schmerz kann ich oder muss ich mir anschauen, ohne etwas tun zu können?

Haben Sie ein Beispiel?

Roth: Im Betreuten Wohnen lebt ein Mann, total verwahrlost, und er ernährt sich nicht gesund, ist total dürr. Und der hat jetzt jemanden, der ihn unterstützt, etwa bei Ämtergängen. Der soll auch gucken, ob der Mann seine Medikamente nimmt. Aber es ist nicht seine Aufgabe, den Mann zu retten, ihm etwa Essen hinzuschaffen. Es geht dann manchmal darum, das mit ihm einfach auszuhalten, dass es ihm so schlecht geht.

Gegen seinen Willen kann man also niemandem helfen?

Roth: Es gibt Grenzen der Hilfe. Und in Supervisionen wird für diesen Schmerz Raum geschaffen, wo auch mal geäußert werden kann, dass es weh tut, jemanden so zurückzulassen. In diesem Spannungsfeld bewegen sich viele. Bei den Fallsupervisionen wiederholt sich das Thema in allen Facetten. Es gehört immer wieder reflektiert: Was ist meine Rolle und was meine Aufgabe?

Wie ist das für Sie?

Roth: Natürlich muss ich das dann auch aushalten. Das sind manchmal Schicksale, die da besprochen werden, da fließen oft Tränen. Das ist es, was Supervision so anstrengend macht.

Und die Teamsupervision?

Roth: Die finde ich noch anstrengender. Weil ich da sofort in dieses System reingezogen werde und mit agiere und mit spüre. Ich muss mich jedes Mal wieder rausnehmen, damit ich das verstehe. Auch in der Nach- und Vorbereitung bin ich da viel mehr beschäftigt als bei den Fällen.

Also jedes Team hat eine eigene Dynamik. Was bestimmt denn das menschliche Handeln?

Roth: An Verhaltensweisen kann man immer gut herangehen, indem man sie auf die Grundbedürfnisse nach Klaus Grawe überprüft: Bindung, Autonomie – das sind im Kontext fast immer die Hauptdinge. An denen kann man schauen: Ist mein Verhalten davon bestimmt, dass ich Kontrolle ausüben will oder dass ich mit jemandem in Bindung kommen will? Bindung und Autonomie stehen auch oft in Konkurrenz zueinander.

Welches sind noch Grundbedürfnisse?

Roth: Selbstwirksamkeit und Unlust vermeiden/Lust gewinnen. Es gibt viele Modelle, aber in der Regel geht es um den Konflikt zwischen Bindung und Autonomie. Es ist wirklich spannend das beim Einzelnen rauszufinden. Der eine ist bereit, für viel Autonomie Bindung zu opfern. Die andere hat so ein großes Bindungsbedürfnis, dass sie sich etwa vom Mann schlagen lässt.

Wie kommen Sie mit den ganzen Geschichten klar?

Roth: Dadurch, dass ich in der Supervision das Verhalten von jemandem verstehe, komme ich wieder in eine Distanz und kann ihn so lassen.

Hilft Ihnen Ihre Supervisions-Ausbildung auch im privaten Bereich bei Konflikten mit der Familie?

Roth: Ja, aber, nicht um Ruhe zu bewahren oder Distanz zu halten, sondern um mich besser zu verstehen und mit mir auch gnädiger zu sein.

Führen Sie dadurch eine glückliche Ehe?

Roth:(lacht) Dazu könnte man meinen Mann mal fragen. Aber er hat auch einen Teil der Ausbildung gemacht, damit er mitreden kann.

Supervision, heißt es in einem Lexikon, benötige man in Berufen, in denen Beziehungsarbeit geleistet wird. Was ist überhaupt Beziehungsarbeit?

Roth: Man möchte als Sozialarbeiter – in dem Bereich findet Supervision oft statt – Dinge verändern. Und Veränderung ist nur auf der Beziehungsebene möglich. Ich glaube, deswegen sagt man Beziehungsarbeit. Das Wort klingt komisch, bedeutet aber eigentlich, dass man mit jemand in Verbindung geht. Dafür braucht es Vertrauen.

Was bedeutet das für ein Arbeitsteam?

Roth: Teams werden immer dann schwierig und ineffektiv, wenn viel auf der Hinterbühne stattfindet, wie es bei uns heißt. Wenn schwere Konflikte nicht auf der Vorderbühne geklärt werden, sondern man die Emotionen verwendet, um auf der Hinterbühne zu lästern. Wenn im Team nicht mehr miteinander, sondern nur noch übereinander geredet wird, hilft die Supervision, wieder in Verbindung zueinander zu kommen.

Wer oder was hilft Ihnen, abzuschalten?

Roth: Ich habe selbst Supervision, bei der ich meine Fälle einbringen kann. Ich investiere zusätzlich zu einer Gruppensupervision auch in eine Einzelsupervision. Ansonsten: Spaziergänge mit dem Hund. Früher habe ich gerne Rätsel gemacht, aber wenn ich jetzt heimkomme, dann muss mein Gehirn ein bisschen verblöden. Nichts mehr machen, wo ich groß überlegen muss. Ein Puzzle oder Serien gucken, die ich schon tausendmal gesehen habe.

Zur Person

Juliane Roth ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und lebt mit ihrer Familie in Offenau. Den größten Teil ihrer Schulzeit hat sie in Ulm verbracht und nach einer Ausbildung zur Erzieherin in Würzburg Soziale Arbeit/Sozialpädagogik studiert. Um sich als Supervisorin von der Deutschen Gesellschaft für Supervision und Coaching (DGSV) zertifizieren lassen zu können, absolvierte sie 300 Weiterbildungsstunden im Bereich Psychologie und soziale Arbeit. Im Landkreis Heilbronn weiß sie von keiner anderen hauptberuflichen Supervisorin oder einem Supervisor.

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