Ziehen der Dienstwaffe ist das letzte Mittel
Psychisch kranke Menschen sind für Polizisten schwer einzuschätzen, dadurch steigt das Risiko, dass jemand verletzt wird. Wie die Polizei damit umgeht.

Ein 25-Jähriger geht in Heilbronn mit einer Waffe im Holster in einen Supermarkt in der Neckarsulmer Straße. Herbeigerufene Polizisten fordern ihn auf, die Hände hochzunehmen. Der Mann greift erst ans Holster, macht dann aber, was die Polizei sagt. Der 25-Jährige wird zu Boden gebracht. Er zieht sich ein Platzwunde zu. Bei der Waffe handelt es sich um eine selbstgebaute Attrappe.
Das Ganze passiert am Montag vor einer Woche. An jenem Tag erschießt ein Polizist in Dortmund einen 16-jährigen Flüchtling mit Messer. Der Jugendliche soll am Tag zuvor Suizidgedanken geäußert haben. Mehrere Kugeln aus einer Maschinenpistole treffen ihn. Er stirbt. Die Polizisten geraten ins Kreuzfeuer der Kritik. Die Ermittlungen zu den Umständen der Todesschüsse sind noch nicht abgeschlossen.
Einsatz ist eine Herausforderung
Die Vorkommnisse hier wie dort lassen sich nicht vergleichen. Eines ist ihnen gemeinsam. In beiden Fällen hat es die Polizei nach eigenen Angaben mit psychisch auffälligen Menschen zu tun. Das kommt relativ häufig vor, erklärt Carsten Diemer, Sprecher des Heilbronner Polizeipräsidiums.
"Grundsätzlich ist der Einsatz bei psychisch Auffälligen eine Herausforderung", sagt Diemer. Das Risiko werde unkalkulierbar. Die Beamten müssten mit jeglichem irrationalen Verhalten und erheblichen Stimmungsschwankungen rechnen. Dazu komme, dass in der Regel unbekannt sei, unter welchen Vorerkrankungen und akuten psychischen Einflüssen die Person steht. Da diese Situationen häufiger vorkommen, sind Erfahrung und Vorsicht unverzichtbar. An derartigen Einsätzen sind meistens viele Polizisten beteiligt, sagt Diemer. Damit das Risiko verletzt zu werden, für den Mensch im psychischen Ausnahmezustand und für Polizisten so gering wie möglich ist.
Polizisten trainieren unterschiedliche Situationen
In Trainings - während der Ausbildung und in späteren Fortbildungen - übten Polizisten den Umgang mit unterschiedlichsten Situationen. Dabei gehe es beispielsweise um die Eigensicherung, simulierte Messerangriffe und den Umgang mit echten Schusswaffen und Attrappen.
Wann ein Polizist die Waffe gegen einen anderen zieht, ist im Polizeigesetz des Landes Baden-Württemberg geregelt. Der Einsatz der Schusswaffe gilt als Ultima Ratio und darf nur unter Beachtung der strengen gesetzlichen Vorgaben erfolgen, teilt Renato Gigliotti, Sprecher des Landesinnenministeriums, in einer E-Mail mit. Die Gesamtzahl der Schusswaffengebräuche gegen Menschen befinde sich seit 2017 auf einem niedrigen Niveau.
Kriminologe fordert Fortbildungspflicht
Der Kriminologe und Jurist Professor Dr. Thomas Feltes sieht dennoch grundsätzlich Handlungsbedarf. Solche Ausnahmesituationen wie jüngst in Dortmund seien im Leben der meisten Polizisten derart selten, dass die sich kaum darauf vorbereiten könnten. "Man müsste zwingend auf Fortbildungen setzen." Wenn ein psychisch kranker Mensch sich Polizisten gegenübersieht, fühle der sich in die Enge getrieben. "Er fühlt sich bedroht." Pfefferspray und Reizgas verfehlten beim Großteil der Betroffenen ihre Wirkung. Sie führten in den meisten Fällen sogar zum Angriff. "Sie verstärken die Aggressivität."

Rückzug statt Festnahme um jeden Preis
Ein Grundübel bei solchen Einsätzen sieht Feltes darin, dass Polizisten zu oft darauf aus seien, den Betreffenden festzunehmen. Statt auf eine Festnahme zu drängen, sollte die Stabilisierung der Lage im Mittelpunkt stehen. "Das heißt sich zurückziehen." Dies gelte nicht in Notwehrsituationen oder wenn jemand beispielsweise mit einem Messer auf einen zulaufe. Einsatzleiter sollten Feltes zufolge verbindliche Fortbildungen durchlaufen. "Sie entscheiden, wie vorgegangen wird."
Ministeriumssprecher Gigliotti zufolge setzen Polizisten in Baden-Württemberg seit 2017 bis Ende des ersten Halbjahres 2022 in 51 Fällen die Schusswaffe gegen Menschen ein. Neun sterben, 27 werden verletzt.
Zwei Männer sterben in Mannheim
Zu den Verletzten zählt ein 31-jähriger Mann in Mannheim, der sich im Mai dieses Jahr selbst mit einem Messer verletzt und droht, sich umzubringen. Polizisten schießen ihm ins Bein. Der Mann stirbt, der Schuss ins Bein ist laut Untersuchung nicht die Todesursache. Eine Woche zuvor kommt ein 47 Jahre alter Mann ebenfalls in Mannheim ums Leben. Polizisten bringen den Mann in der Innenstadt zu Boden. Videos vom Einsatz zeigen, wie ein Polizist den Mann auf den Kopf schlägt. Ob das zum Tod führt, ist noch nicht abschließend geklärt. In beiden Fällen sind die Männer wohl psychisch krank.
Wenn Polizisten ihre Waffe gegen Menschen gebrauchen, wird der Vorfall juristisch geprüft und intern aufgearbeitet, sagt Gigliotti. "Wichtig ist, dass der Einsatz der dienstlichen Schusswaffe als Ultima Ratio erfolgt und unter Beachtung der strengen gesetzlichen Vorgaben." Die Überprüfung der Fälle in den vergangenen Jahren habe gezeigt, dass kein Waffengebrauch unzulässig gewesen sei.