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Vom Fluch und Segen digitaler Kommunikation

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Die international tätige Wissenschaftlerin Claudia Finkbeiner aus Heilbronn hat viel Erfahrung mit Online-Konferenzen. Für die Schulen hat sie daher einige Tipps parat. Denn vor allem eine Sache wird bei Online-Konferenzen ihrer Meinung nach völlig unterschätzt.

Claudia Finkbeiner (links oben) war eine der Organisatorinnen des Weltkongresses der Literacy Research Association im Dezember 2020.
Fotos privat
Claudia Finkbeiner (links oben) war eine der Organisatorinnen des Weltkongresses der Literacy Research Association im Dezember 2020. Fotos privat  Foto: privat

Die Corona-Pandemie hat Deutschland einen kräftigen Digitalisierungsschub beschert. In vergleichsweise kurzer Zeit hat sich in vielen Bereichen Online-Kommunikation über diverse Kanäle etabliert, und Homeoffice ist für Millionen Arbeitnehmer mittlerweile Normalität. Auch Claudia Finkbeiner arbeitet seit neun Monaten von ihrem Heimarbeitsplatz in Heilbronn und hat in dieser Zeit wertvolle Erfahrungen über die neue Form der Kommunikation gesammelt. Dabei kommt ihr die wichtige Erfahrung durch ihre langjährige digitale Kooperation mit jüdischen und arabischen Teilnehmern aus Israel zu Gute.

Homeoffice statt Forschungssemester in den USA

Finkbeiner ist Professorin für Fremdsprachenlehr- und -lernforschung sowie Interkulturelle Kommunikation an der Universität Kassel und wäre derzeit eigentlich im Rahmen eines Forschungssemesters an der amerikanischen Elite-Universität Berkeley. Doch Corona hat auch den Alltag an den Hochschulen umgekrempelt - nahezu alles läuft aktuell digital.

So hat Claudia Finkbeiner als Präsidentin der internationalen Association for Language Awareness (ALA, auf deutsch: Gesellschaft für Sprachbewusstsein) Ende Oktober einen zweitägigen digitalen Kongress mit 100 Wissenschaftlern aus 30 Ländern organisiert. Und sie war Vortragende in der virtuellen Konferenz der Literacy Research Association (Gesellschaft für Alphabetisierungs- und Leseforschung) Anfang Dezember mit 908 Vorträgen und 23 parallel laufenden Workshops. "Das war anstrengend und spannend. Ich habe unglaublich viel gelernt", sagt die Wissenschaftlerin aus Heilbronn, die bei diesen beiden Weltkongressen im Amt bestätigt wurde als Präsidentin der ALA und als International Chair der Literacy Research Association.

Persönlicher Kontakt ist unverzichtbar

Zwar vermisst Claudia Finkbeiner den persönlichen Austausch mit anderen Wissenschaftlern auf Kongressen. "Die wichtigsten Gespräche finden vor und nach den Veranstaltungen statt", weiß sie. Die digitalen Formate sind ihr zu "statisch und steril", aber sie funktionieren und sind in Pandemiezeiten eine gute Alternative zu Präsenzveranstaltungen, findet Finkbeiner.

Die Kommunikation auf digitalen Plattformen sei aber eine gänzliche andere, hat die Wissenschaftlerin festgestellt. Egal ob Skype, Zoom oder Teams - bei jedem Konferenz-Tool stelle sich die Machtfrage. "Wer lädt ein? Wer kann Teilnehmer stummschalten? Wer hat das Sagen?" Diese Fragen beeinflussen Finkbeiner zufolge die Art der Kommunikation ganz erheblich. Sie findet es wichtig, dass alle Teilnehmer solcher Konferenzen möglichst auf Augenhöhe miteinander kommunizieren und gewisse Regeln einhalten. "Es kann nicht sein, dass der eine die Kamera eingeschaltet hat und der andere nicht", nennt Finkbeiner ein Beispiel. Auch müsse jeder Teilnehmer die Funktionsweise der Tools kennen.

Digitale Müdigkeit wird unterschätzt

Als kritischen Punkt hat sie das Phänomen des "digital fatigue", also digitale Müdigkeit, ausgemacht. "Das wird hierzulande völlig unterschätzt", sagt Finkbeiner mit Blick auf die Schulen. "Digitaler Unterricht von 8 bis 15 Uhr ist nicht möglich." Die Konzentrationsspanne sei bei digitalen Formaten viel kürzer als im Präsenzunterricht.

Für das Homeschooling wünscht sich Finkbeiner Formate, die sie auch an ihrer Universität erfolgreich anwendet. "Ich empfehle die Bildung von Fokusgruppen von vier bis sechs Kindern, die länger zusammenbleiben", sagt sie. Betreut werden sollten diese idealerweise von digitalen Tutoren, die die Lehrer unterstützen. "Das können Studierende oder ältere Schüler sein", schlägt Finkbeiner vor.

Nachholbedarf bei der technischen Ausstattung

Grundlage für erfolgreiches digitales Lehren und Lernen sei natürlich die technische und infrastrukturelle Ausstattung von Schulen und Schülern - hier gebe es noch großen Nachholbedarf in Deutschland. Doch zahlreiche hochkreative Lehrer und Schulen zeigten, dass die Corona-Pandemie auch eine große Chance für die Digitalisierung des Bildungswesens sei, findet Finkbeiner. Der erforderliche immense finanzielle Aufwand lohne sich auf jeden Fall, ist sie überzeugt.

Kritik an Bildungspolitik

Claudia Finkbeiner sieht einen grundsätzlichen Fehler darin, dass in Deutschland die frühkindliche Bildung etwa in Kitas im Familienministerium angesiedelt ist und nicht im Bildungsministerium. "Das macht überhaupt keinen Sinn, denn das ist das wichtigste Lernalter", sagt die Wissenschaftlerin aus Heilbronn und verweist auf die USA, wo der komplette Bildungsbereich im Bildungsministerium gebündelt ist. Auch der Föderalismus in Deutschland verhindere häufig ein schnelles Reagieren und Handeln in Krisenzeiten im Bildungsbereich sowie eine sich optimal an neuesten Forschungsergebnissen der Lernpsychologie orientierende frühkindliche Bildung, kritisiert Finkbeiner.

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