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"Viele Kinder sind wegen der Corona-Krise sehr belastet"

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Mehr Notfälle, eine übervolle Akutstation: Dr. Claas van Aaken, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Klinikum am Weissenhof in Weinsberg, über die Folgen des Lockdowns.

Chefarzt Dr. Claas van Aaken sagt, dass Fernlernen den Schulalltag in keiner Weise ersetzen kann. Der Lebensbereich Schule, der Austausch mit Gleichaltrigen, sei essenziell für den Reifungsprozess von Jugendlichen.
Foto: Andreas Veigel
Chefarzt Dr. Claas van Aaken sagt, dass Fernlernen den Schulalltag in keiner Weise ersetzen kann. Der Lebensbereich Schule, der Austausch mit Gleichaltrigen, sei essenziell für den Reifungsprozess von Jugendlichen. Foto: Andreas Veigel  Foto: Veigel, Andreas

Die Kontaktbeschränkungen in der Corona-Krise belasten vor allem Kinder. Das belegt die Copsy-Studie von Medizinern aus Hamburg, nach eigenen Angaben die bundesweit erste ihrer Art. Dass es mehr Notfälle gibt, die Akutstation übervoll ist, berichtet Dr. Claas van Aaken, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Klinikum am Weissenhof in Weinsberg.

 

Herr van Aaken, laut Studie zeigt jedes dritte Kind coronabedingt psychische Auffälligkeiten. Warum trifft der Lockdown Kinder besonders?

van Aaken: Das Problem für Kinder und Jugendliche ist, dass ihre normalen Alltagsbezüge und Erfahrungen, die wichtig sind für ihre Entwicklung, massiv zurückgefahren werden. Für sie sind neben Familie besonders der Lebensbereich Schule und der Austausch mit Gleichaltrigen die wichtigsten Faktoren für den psychischen Reifeprozess. Im Lockdown fehlen soziale Kontakte, Hobbies, Sport. Man besucht keine Fete, geht nicht in die Disko. All das fällt weg, das wirkt sich ab einem gewissen Grad und einer gewissen Dauer auf die Psyche aus.

 

Gibt es Unterschiede, je nach Alter der Kinder?

van Aaken: Ja. Subjektiv leiden besonders Jugendliche unter den Einschränkungen. Je jünger die Kinder sind, je stärker der familiäre Bezug noch ist, desto weniger schwerwiegend sind oft die Auswirkungen. Ein gutes familiäres Miteinander wirkt wie eine Schutzfunktion. Gleichzeitig gibt es häufig sehr problematische Familienkonstellationen, bei denen es schon zuvor Auseinandersetzungen gab, verbal und körperlich. Da hat sich die Lage verschlechtert, weil man jetzt aufeinander sitzt und die Bereiche abseits des Zuhauses wegfallen.

 

Kitas und Grundschulen sind seit dieser Woche wieder auf. Wie wichtig ist es, dass sich bei den weiterführenden Schulen etwas tut?

van Aaken: Weil sich die Jüngsten am meisten entwickeln, ist nachvollziehbar, dass hier zuerst geöffnet wird. Aber ich sehe viele Jugendliche, die sehr belastet sind. Aus psychiatrischer Sicht ist die Schließung der Schulen deshalb bedenklich. Bei immer mehr Kindern und Jugendlichen ist ein kritischer Punkt erreicht, an dem Entwicklungsschäden drohen. Die Copsy-Studie zeigt, dass die Maßnahmen aufgrund der Dauer und der Tatsache, dass es schon zum zweiten Mal passiert, jetzt an die Substanz gehen. Ich sehe täglich, wie sich psychische Probleme verschlechtern oder neue Störungen auftreten. Es wird immer schwieriger, da gegenzusteuern. Ich plädiere dafür, das unbedingt zu berücksichtigen, wenn es um anstehende Lockerungen geht.

 

Dr. Claas van Aaken ist 45 Jahre alt, verheiratet und seit 2015 Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Klinikum am Weissenhof in Weinsberg. Dort gibt es elf Plätze für Schulkinder bis 13 Jahre, 20 Plätze auf der Jugendstation, fünf im akuten Bereich und zehn auf der Sucht-station mit überregionaler Belegung. In der Tagesklinik in Heilbronn werden bis zu 14 junge Patienten behandelt. 

Oft dominiert die Frage, wie viel beim Fernlernen hängenbleibt. Wird das der Schule gerecht?

van Aaken: Nein, denn Schule ist viel mehr als Wissensvermittlung. Sie ist zentraler Ort des sozialen Lernens, hier findet zudem der Aufbau eines Rollenverhaltens statt. Video-Beschulung kann den Schulalltag in keiner Weise gleichwertig ersetzen.

 

Ein Ergebnis der Studie ist auch, dass besonders Kinder aus ärmeren Verhältnissen leiden. Haben Sie mehr Patienten aus sozial schwachen Familien?

van Aaken: Es gibt verschiedene Konstellationen in der jetzigen Pandemie. Zum einen haben wir Patienten, die schon zuvor depressive Züge aufwiesen und jetzt tief in die Depression rutschen. Das ist unabhängig von der sozialen Schicht. Und dann haben wir psychosoziale Notsituationen, die mit familiären Belastungen einhergehen. Das häuft sich. Wir haben mehr Notfälle, unsere Akutstation ist übervoll. Als Notfälle kommen etwa selbstmordgefährdete Jugendliche oder solche mit akuter Behandlungsbedürftigkeit zu uns. Essstörungen wie Magersucht haben zugenommen. Interessant ist im jetzigen Lockdown auch, dass Patienten nicht entlassen werden wollen, weil unser Klinikalltag mehr Struktur bietet, als das daheim der Fall ist.

 

Das heißt, man muss die Familie insgesamt betrachten, der ganze Verbund ist sozusagen überfordert?

van Aaken: Genau. Wenn die Kinder viel weniger Sport machen, keine Ausweichmöglichkeiten haben und sich nicht mit Gleichaltrigen treffen, können sie sich weniger gut regulieren. Auch den Eltern fehlen Entlastungsmöglichkeiten. Das Miteinander ist dichter. Das erzeugt oft Spannung.

 

Werden gesunde Kinder durch die Krise nachhaltig geprägt?

van Aaken: Viele werden unbeschadet ihren Weg gehen. Das Problem sind unter anderem die ängstlichen Kinder, die erstmal entlastet auf den Lockdown reagieren, weil die Präsenzpflicht ausgesetzt ist. Ein Drittel unserer Patienten hat schulbezogene Probleme, mit angstbezogener Schulvermeidung. Wir können den Schulalltag aber momentan gar nicht mit ihnen einüben. Sie werden noch stärker entwöhnt, für sie wird die Hürde, den Anschluss wieder zu finden, später noch höher.

 

Haben Sie einen Rat für Familien?

van Aaken: Eltern sollten auf Grundstrukturen achten. Gemeinsame Mahlzeiten, etwas Aktives einplanen, etwa einen Spaziergang, aber auch eine Wohlfühlzeit. Sie sollten Druck rausnehmen, zum Beispiel beim Thema Handy, wenn die Kinder damit ihre sozialen Kontakte pflegen. Das ist ein zentrales Bedürfnis und muss berücksichtigt werden für die Selbstwertentwicklung.

 

 

 

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