"Türkische Offensive hilft Assad"
Die gebürtige Heilbronnerin Kristin Helberg spricht im Stimme-Interview über die Lage der Kurden in Syrien und über Flüchtlinge in Deutschland. Am Abend liest sie im Heinrich-Fries-Haus aus ihrem neuesten Buch.

Im Nordwesten Syriens greift die türkische Armee Stellungen kurdischer Kämpfer an. Die Syrien-Expertin Kristin Helberg erklärt den Konflikt. Außerdem spricht sie im Interview über das Thema ihres neuen Buches, den Verständnisschwierigkeiten zwischen Deutschen und Syrern.
Der türkische Präsident Erdogan geht gerade massiv gegen Kurden in Syrien vor. Worum geht es ihm?
Kristin Helberg: Erdogan will ein kurdisches Autonomiegebiet entlang der türkischen Grenze verhindern. Dazu ist er 2016 in das Gebiet nördlich von Aleppo eingerückt und hat einen Keil zwischen die kurdischen Kantone Afrin und Kobane geschoben. Jetzt will er die dort herrschende Partei der demokratischen Union (PYD) und deren Volksverteidigungseinheiten (YPG) zerschlagen, die er wegen ihrer Nähe zur PKK als Terroristen bezeichnet. Für den Westen sind sie in Syrien die Hauptverbündeten im Kampf gegen den IS.
Will Erdogan Grenzen verrücken?
Helberg: Ich denke nicht, dass er syrisches Staatsgebiet dauerhaft besetzen will. Es reicht ihm, das Grenzgebiet unter seinen Einfluss zu bringen, indem er auf syrischer Seite nur Gruppen duldet, die in seinem Sinne handeln. Aktuell sind das Rebellen der Freien Syrischen Armee (FSA), die von der Türkei unterstützt werden und als Söldner Erdogans fungieren. Statt Assad zu bekämpfen gehen sie jetzt gegen ihre kurdischen Landsleute in Afrin vor. Erdogan würde sich aber mit jedem arrangieren, der die YPG bekämpft − auch mit dem Assad-Regime oder islamistischen Gruppen.
Wie gut hat die Selbstverwaltung der Kurden in Afrin funktioniert? Welche Zusammenarbeit gab es mit dem Assad-Regime?
Helberg: Afrin galt wie die Kurdengebiete im Nordosten Syriens als relativ stabil und sicher. Zwar beansprucht die PYD die alleinige Macht und verfolgt Kritiker, so dass wir nicht von einem "demokratischen Modell" sprechen können, wie manche Linke das gerne verklären. Aber es gibt eine funktionierende Verwaltung, Schulen, Krankenhäuser, Gerichte, Gefängnisse. Die PYD hat 2011 ein Stillhalteabkommen mit dem syrischen Regime geschlossen − Assad überlässt ihr die kurdischen Gebiete, dafür verhindert die PYD dort Proteste gegen das Regime.
Assad hatte akzeptiert, dass er in der Region keine Macht hatte?
Helberg: Das Regime ist in Städten wie Qamishli noch präsent, kontrolliert etwa den dortigen Flughafen. Die PYD hat sich damit arrangiert und ansonsten freie Hand. Dadurch blieb die Region von Assads Luftangriffen verschont, Hunderttausende Syrer aus anderen Landesteilen flohen dorthin. Aus kurdischer Sicht war das klug. Für Bewohner in Homs, Aleppo oder dem Umland von Damaskus, die über Jahre vom Regime bombardiert und ausgehungert wurden, war das Verrat. Jetzt rächt sich manche Rebellengruppe dafür − und verrät dabei selbst die Ziele der Revolution. Am meisten profitiert davon Assad.
Ist eine Nachkriegs-Ära in Syrien ohne eine kurdische Autonomie-Region überhaupt denkbar?
Helberg: Ein Syrien, in dem die Menschen in Freiheit und ohne Angst leben können, wird sicher kein autoritärer Zentralstaat mehr sein. Ohne föderale Strukturen wird Syrien nicht zur Ruhe kommen, denn der Krieg hat die Menschen auseinanderdividiert. Sie sind von ihren Erfahrungen geprägt, die von Ort zu Ort sehr unterschiedlich sind − Vertreibung, Bomben, Polizeistaat, Selbstverwaltung, Freiheit, Mitsprache − und entsprechend denken und fühlen sie. Aktuell vor allem Misstrauen und Hass. Deshalb brauchen wir ein Syrien der mehr oder weniger autonomen Regionen, die von Damaskus zusammengehalten aber nicht bevormundet werden.
In Ihrem Buch geht es um kulturelle Unterschiede und Missverständnisse zwischen Syrern und Deutschen. Wie nehmen Sie das Zusammenleben heute wahr, nachdem viele Syrer seit zweieinhalb Jahren hier leben?
Helberg: Es herrscht viel Frust. Das hat mit politischen Entscheidungen zu tun, die Integration verhindern statt erleichtern. Mit unflexiblen Behörden und persönlicher Ernüchterung. Viele Syrer lernen seit Jahren nur Deutsch und haben das Gefühl, nicht voranzukommen. Ehrenamtliche schwanken zwischen Freude über Erreichtes und Kopfschütteln über Verhaltensweisen, die sie nicht nachvollziehen können. Dazwischen gibt es einiges, was gut klappt, und eine Menge Erfolgsgeschichten.
Viele Syrer können ihre Familien nicht nach Deutschland holen. Wie beeinflusst das ihr Leben bei uns?
Helberg: Der ausgesetzte Familiennachzug wirkt verheerend. Vor allem Familienväter warten zum Teil seit mehreren Jahren auf ihre Frauen und Kinder, machen sich Sorgen und Vorwürfe und können deshalb nicht hier ankommen. Die 60?000 nahen Angehörigen, die nachziehen würden, wären keine Belastung, sondern ein Motor der Integration. Die Kinder gingen in Schulen und Kitas, die Väter wären motiviert zu arbeiten, die Mütter endlich in Sicherheit.
Können Sie nicht verstehen, dass viele Menschen Bedenken haben, weil Wohnraum knapper geworden ist, weil es Kapazitätsprobleme an den Schulen gibt, etc.?
Helberg: Natürlich. Aber daran sind nicht Geflüchtete Schuld, sondern Politiker, die seit Jahren nicht in der Lage sind, Haushaltsüberschüsse sinnvoll zu investieren − in mehr Lehrer, Erzieher und Sozialarbeiter und in bezahlbaren Wohnraum.
Zur Person
Kristin Helberg (geboren 1973 in Heilbronn) lebt als freie Journalistin und Autorin in Berlin. Nach dem Abitur am Theodor-Heuss-Gymnasium in Heilbronn hat sie in Hamburg und Barcelona Politikwissenschaften studiert und anschließend beim NDR gearbeitet. Von 2001 bis 2008 war sie Korrespondentin in Berlin. Sie ist verheiratet und hat drei Kinder.
Veranstaltung in Heilbronn
Kristin Helberg ist heute um 19.30 Uhr im Heinrich-Fries-Haus, Bahnhofstraße 13, zu Gast. Sie liest aus ihrem Buch "Verzerrte Sichtweisen − Syrer bei uns" (Herder, 276 Seiten, 24, 95 Euro) und steht anschließend zum Gespräch bereit. Eintritt: acht Euro.
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Stimme.de
Kommentare
Peter Henschel am 02.02.2018 10:33 Uhr
Schon die Überschrift von diesem Artikel ist mehr als tendenziös und
steht im völligen Widerspruch der aktuellen Anzeigenkampagne gegen
Fakenews.
Die hier gemachten Schlussfolgerungen sind doch sehr fragwürdig!
Wie kann es angehen, dass ein verantwortungsvoller Familienvater,
seine Frau und Kinder alleine in diesem "gefährlichen" Land zurück
läßt und was it mit den allen anderen dort lebenden Menschen?
Was ist mit der zu erartenden Rückkehr nach Syrien? Genau diese
Rhetorik weckt vollig falsche und unverantwortliche Hoffnungen und
zwar für alle Beteiligten, hier und dort!