Süchtig nach Glück: Forscher fordert Regulierung
Lotto, Sportwetten und Co.: Der Hohenheimer Wissenschaftler Tilman Becker, Leiter der Forschungsstelle Glücksspiel, spricht im Stimme-Interview über Verheißung des Spiels, die Gefahren und das Versagen des Staates

Einmal in der Liga der Superreichen mitspielen, den ganz großen Jackpot abräumen: Mit Glücksspiel werden Milliarden bewegt. Der Traum vom schnellen Geld ist Geschäftsgrundlage von Lottogesellschaften, Sportwettenanbietern und Spielbanken - und er gefährdet Existenzen.
Schon die alten Germanen spielten sich um Haus und Hof, weiß Glücksspielforscher Tilman Becker von der Universität Hohenheim. Er kritisiert, dass der Staat eine entfesselte Glücksspielbranche unkontrolliert gewähren lasse.
Wann haben Sie das letzte Mal Lotto gespielt?
Tilman Becker: (lacht) Das war vor ein paar Wochen, als der Jackpot im Spiel 77 so hoch war. Da dachte ich mir, versuche es mal. Ich spiele ab und zu Lotto und gehe gelegentlich in Spielhallen oder Spielbanken.
Wie sieht es mit Sportwetten aus?
Becker: Das mache ich eher selten. Bei der Fußball-WM habe ich auf Trinidad und Tobago gesetzt. Bei einer Quote von ein zu 1000 war das einen Versuch wert.
Sie leiten die Forschungsstelle Glücksspielforschung, eine bundesweit einmalige Einrichtung, die gerade 15 Jahre alt geworden ist. Gehört das Zocken da zur Feldforschung?
Becker: Na ja, ich bin nicht sehr aktiv beim Wetten und auch kein guter Kunde.
Aber Sie spielen gelegentlich, obwohl Sie als Wissenschaftler um die bescheidenen Gewinnchancen wissen.
Becker: Bescheiden? Das ist relativ. Die Auszahlungsquoten bei Lotto liegen bei 50 Prozent, bei Roulette sind es 92 bis 97, bei Sportwetten über 90 Prozent. Nur bei Geldspielgeräten ist die gesetzliche Auflage, Ausschüttungsquoten anzugeben, nicht erfüllt. Das hat mir auch die Automatenwirtschaft nicht beantworten können. Die Betreiber wissen es, aber der Kunde nicht. Das ist doch bizarr: In der Kneipe weiß ich, was ein Bier kostet.
Und bei Automaten bezahlt man eben und schaut, was dabei herauskommt?
Becker: Genau. Mal schauen, und immer wieder Geld nachwerfen. Es ist schon im Sinne der Verbraucher sinnvoll, dass die Auszahlungsquote angegeben wird. Und es ist gesetzlich vorgeschrieben, aber die Aufsteller kommen dem nicht nach.
Unabhängig von der Ausschüttungsquote: Die Chance, selbst den großen Reibach zu machen, ist doch gering. Oder haben Sie das unfehlbare System für Roulette schon entdeckt?
Becker: Ich wette mit Ihnen, dass ich eine Woche lang jeden Tag in die Spielbank gehe und jeden Tag mit einem Gewinn rausgehe.
Erzählen Sie mehr.
Becker: Mit der Verdopplungsstrategie erzielt man mit großer Wahrscheinlichkeit einen Gewinn, er ist aber sehr klein. Ich setze einen Euro auf eine Farbe. Wenn ich gewinne, nehme ich die zwei Euro und gehe nach Hause. Wenn nicht, verdoppele ich den Einsatz. Wenn ich Pech habe, stoße ich irgendwann an das Limit meines Kapitals. Und wenn ein Gewinn abfällt, ist er relativ niedrig. Das reicht nicht, um seinen Lebensunterhalt damit zu bestreiten.
Das ist eine rationale Betrachtung. Spieler sind oft impulsiv und unkontrolliert. Woher kommt diese Lust am Glücksspiel um Geld?
Becker: Das macht alle Welt, und es zieht sich durch die Geschichte. Tacitus schreibt, dass die Germanen leidenschaftlich Würfelspiel betrieben haben. Wenn sie alles verloren haben, haben sie sich selbst als Einsatz verspielt und sich als Sklaven verdingt.
Was treibt die Menschen dazu, ein solches Risiko einzugehen?
Becker: Die Erklärung der Soziologie ist relativ einfach. Wenn ich den Jackpot knacke, verkehre ich in den Kreisen der Oliver Kahns und Boris Beckers dieser Welt. Das ist strukturerhaltend, ein Aufstiegsversprechen. Mir ist in Baden-Württemberg ein einziger Lottosüchtiger bekannt. Der sagte: Was habe ich denn für eine Möglichkeit, an Geld zu kommen? Entweder ich gewinne im Lotto, oder ich überfalle eine Bank.
Glücksspiel ist ein zynischer Begriff, wenn man sieht, wie viele Menschen es ins Unglück stürzt. Wollen Sie dem mit Ihrer Forschungsstelle entgegenwirken?
Becker: Wir sind keine Suchthilfeeinrichtung, sondern wir versuchen, wissenschaftliche Aufklärung zu betreiben. Es gibt Studien, die werden von der Automatenwirtschaft in Auftrag gegeben und kommen zu dem Schluss, dass es kaum eine Suchtproblematik beim Automatenspiel gibt. Wir wollen dagegenhalten. Es gibt nun mal 200 000 pathologische Spieler und 300 000 problematische Spieler. Von denen, die sich in Therapie begeben, sind 70 bis 80 Prozent vor allem abhängig vom Geldspiel in Spielhallen und Gaststätten.
Wie äußert sich eine solche Sucht?
Becker: Das ist das bekannte Muster. Betroffene wollen Verluste durch immer höhere Einsätze wettmachen, sie verschulden sich, belügen Familienmitglieder. Sie wollen eigentlich aufhören, können aber nicht.
Hört sich an wie eine klassische Drogenkarriere. Und der Staat ist mit seiner Lottogesellschaft beteiligt?
Becker: Lotto macht eher nicht süchtig. Von den Betroffenen in Therapie macht das vielleicht ein Prozent aus. Auch die Spielbanken haben bei der Suchtproblematik eine untergeordnete Problematik. Hohes Suchtpotenzial haben die Spielhallen und in zunehmendem Maß die Sportwetten und Online-Casinos.
Sie sagen, der Staat versagt bei der Regulierung. Was meinen Sie genau?
Becker: Online-Casinos zum Beispiel sind ganz klar verboten. Es gibt sie immer noch. Die großen Sportwettenanbieter verdienen ihr Geld mit Online-Casinos, weil bei Wetten die Marge relativ niedrig ist. Die Quoten sind transparent, die Konkurrenz ist groß. Da bleiben die Online-Casinos, die es eigentlich nicht geben dürfte. Niemanden interessiert das.
Komplizierter ist es bei privaten Anbietern von Sportwetten. Das ist eine Grauzone.
Becker: Ja. Sie könnten eine Lizenz bekommen. Es sollten auch seit 2012 eigentlich welche verteilt werden. Dies ist aber nicht erfolgt, da Gerichte gesagt haben, dass das Vergabeverfahren der Lizenzen unrechtmäßig war. Strafrechtlich dürfen die Anbieter daher nicht verfolgt werden, obwohl sie eigentlich illegal sind. Jetzt soll es beim Staatsvertrag zumindest einen neuen Anlauf geben.
Offensichtlich läuft vieles falsch. Wie sollte der Staat denn ihrer Ansicht nach mit der Glücksspielbranche umgehen?
Becker: Das Problem ist, dass jedes der 16 Bundesländer für die Verfolgung illegalen Glücksspiels im Internet in seinem Gebiet zuständig ist. Das Internet macht aber nicht an den Grenzen eines Bundeslandes halt. Ein einzelnes Bundesland hat nicht die Ausstattung, und oft fehlt auch der politische Wille. In anderen Ländern geht es. Dänemark hat eine Glücksspielkommission eingerichtet und zwölf Jahre später Lizenzen vergeben. Auch die Niederlande haben seit einigen Jahren eine solche Kommission. Dort überlegt man, ob man mit der Lizenzvergabe noch etwas wartet und bis dahin die Zuverlässigkeit der Anbieter überprüft. Deutschland verteilt Konzessionen und wundert sich, dass alles schiefgeht. Wenn man Lizenzen vergibt, muss man doch überprüfen, ob die Regeln eingehalten werden.
Was genau sollte überprüft werden?
Becker: Man kann nicht jemanden gewähren lassen, der sich im Supermarkt eine Wertkarte kauft, den Code eingibt und dann im Internet Glücksspiel betreibt. Das kann ein Fünfjähriger sein. Darauf sollte eine Glücksspielaufsichtsbehörde achten. Dann sollte jeder Spieler, der Probleme hat, die Möglichkeit haben, sich sperren zu lassen. Passiert nicht. Jeder Spieler sollte sich ein Limit setzen können. Passiert nicht. Der Einsatz sollte auf maximal 1000 Euro festgeschrieben werden. Auch das passiert nicht, weil es nicht überprüft wird.
Liegt die Laxheit auch daran, dass der Staat mitverdient, etwa über die Sportwettsteuer?
Becker: Das kann ich mir nicht vorstellen, die Sportwettsteuer erbringt bundesweit rund 380 Millionen Euro. Das sind nicht die riesigen Beträge. Nein: Es interessiert einfach keinen. Das scheint so eine Schmuddelecke zu sein, um die sich in der Politik niemand ernsthaft kümmert.
Alles zu verbieten, ist auch keine Lösung.
Becker: Nein. Die Lösung ist, eine funktionierende Glücksspielaufsicht einzurichten und zu kontrollieren, dass die Vorgaben auch eingehalten werden. Die Werbung dafür muss man kontrollieren. Kampagnen wie mit Boris Becker oder aktuelle mit Oliver Kahn sind Reklame für illegales Glücksspiel. Die Anbieter können machen, was sie wollen, ohne dass ihnen etwas passiert.
Vielleicht nimmt alles denselben Weg wie bei den Zigaretten. Vom Laissez-Faire zum sehr restriktiven Kurs gegenüber Rauchen, den wir heute beobachten.
Becker: Das kann gut sein. Dies konnten wir bei Spielhallen beobachten. In anderen Ländern gibt es schon wieder Tendenzen, Glücksspielwerbung komplett zu verbieten. Mich ärgert, dass der Staat erst reagiert, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist.
Laut Glücksspielstaatsvertrag müssen die Länder in die Forschung in diesem Bereich investieren. Ist das der Grund, warum es Ihre Forschungsstelle gibt?
Becker: (lacht) Von wegen. Sie müssen mal sehen, wie wir uns finanzieren.
Nämlich?
Becker: Wir sind ein gemeinnütziger Verein, der sich durch Spenden finanziert. Wir bekommen weder von der Universität noch vom Land einen einzigen Cent. Die Universität hat uns freundlicherweise einen Raum zur Verfügung gestellt. Das war es dann. Ich habe einen Lehrstuhl für Agrarmarketing und mache das ehrenamtlich nebenher. Keiner weiß, wie das nach mir weitergeht. Das Land kommt seiner Verpflichtung nicht nach.