Stadler ist der Mann, der angeblich nichts wusste
Die Staatsanwaltschaft München klagt den ehemaligen Audi-Chef Rupert Stadler unter anderem wegen Betrugs in der Dieselaffäre an. Auch drei weitere Beschuldigte sind angeklagt. Der vorläufige Tiefpunkt des größten Industrieskandals der Bundesrepublik.

Zuletzt hat man ihn in Ingolstadt wieder öfter gesehen − durch die Fußgängerzone schlendernd oder in einem Café sitzend. Er trägt jetzt Bart und eine neue Brille, erkannt wird er in Ingolstadt aber dennoch fast von jedem. Am Dienstag hat die Staatsanwaltschaft München II den ehemalige Audi-Chef Rupert Stadler unter anderem wegen Betrugs in der Dieselaffäre angeklagt. Es ist der vorläufige Tiefpunkt des größten Industrieskandals in der Bundesrepublik.
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Das Landgericht München II entscheidet nun, ob es die Anklage gegen 56-Jährigen zulässt. Neben Stadler sind drei weitere Beschuldigte angeklagt, die − so ist es der Mitteilung der Staatsanwaltschaft zu entnehmen − mit der Entwicklung der Dieselmotoren betraut gewesen sind. Nach Informationen der Heilbronner Stimme handelt es sich bei zwei der Betroffenen um Wolfgang Hatz, einst Motorenchef bei Audi und VW sowie zuletzt Vorstand für Entwicklung bei Porsche. Und um den ehemaligen Dieselmotoren-Entwickler Giovanni Pamio. Beide saßen − wie auch Rupert Stadler − bereits in Untersuchungshaft.
Details zum Hintergrund des Dieselskandals sind durchgesickert
Die Behörde wirft Stadler vor, "spätestens ab Ende September 2015 von den Manipulationen Kenntnis gehabt und gleichwohl weiter den Absatz von betroffenen Fahrzeugen der Marken Audi und VW veranlasst beziehungsweise den Absatz nicht verhindert zu haben". Die Anklage umfasst den Angaben zufolge 250.712 Fahrzeuge von Audi, 71.577 Fahrzeuge von VW und 112.131 Fahrzeuge von Porsche. "Die Fahrzeuge sind insbesondere auf dem US-amerikanischen, aber auch auf dem europäischen Markt veräußert worden", so der Vorwurf.
Immer mehr Details dessen, was die Ankläger herausgefunden haben über die Hintergründe des Dieselskandals, sind inzwischen durchgesickert. Aussagen und E-Mails, die aufzeigen sollen, dass die Unternehmensspitze sehr wohl Bescheid wusste über die Betrügereien, obwohl Audi diverse Mechanismen eingebaut hatte, um genau dies zu verhindern. Und das Kraftfahrbundesamt hat selbst in Audi-Modellen, die im dritten Jahr nach der Aufdeckung des Skandals durch die US-Behörden produziert wurden, gleich mehrere sogenannte Defeat Devices gefunden, mit denen der Hersteller auf illegale Weise die Abgasgrenzwerte eingehalten hat.
Es schien so, als könnte Stadler die Sache aussitzen
Kurz nachdem im September 2015 bei Volkswagen die millionenfache Manipulation an Dieselfahrzeugen publik wurde, hatte Stadler klargestellt: "Bei Audi ist alles in Ordnung." Die Wahrheit, so zeigten die Folgejahre, ist indes eine andere. Immer wieder tauchten neue Betrügereien auf − von all dem will der ehemalige Boss nichts gewusst haben. Zwischenzeitlich schien so, als könnte der 56-Jährige die Sache aussitzen. Bereits mehrfach stand Stadler in den vergangenen Jahren vor dem Aus. Die schützenden Hände der Familien Porsche und Piëch, die im Konzern das Sagen haben, retteten den Bayern immer wieder, wenn seine Kritiker lauter wurden. Im Sommer 2017 bekamen zur Präsentation des neuen A8 gleich vier Vorstandsmitglieder ihre Papiere. Rupert Stadler durfte bleiben.
Stadler kam aus der U-Haft frei und Schot übernahm das Ruder
Vorerst. Denn am 18. Juni 2018 geschah das scheinbar Unmögliche. Am Morgen dieses sonnigen Montags fuhr die Staatsanwaltschaft in Ingolstadt zu Stadlers Haus und nahm ihn wegen Verdunklungsgefahr in Untersuchungshaft. Bei Razzien in der Audi-Zentrale in Ingolstadt und im Werk Neckarsulm wurde Material sichergestellt, Stadlers Privathaus in Ingolstadt durchsucht. Die zuständigen Ermittler hatten Unterlagen und E-Mails ausgewertet sowie Telefonate von Stadler abgehört. Nach vier Monaten kam er wieder frei, sein Job als Vorstandsvorsitzender war aber weg. Bram Schot übernahm das Ruder.
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Mehr als elf Jahre ist es her, dass Rupert Stadler fast aus dem Nichts zum Vorstandsvorsitzenden der VW-Tochter gemacht wurde, als Martin Winterkorn von Ingolstadt nach Wolfsburg wechselte. Bis dahin kannte kaum jemand den Finanzvorstand. Nur zweimal im Jahr trat er bis dahin in Erscheinung − bei der Hauptversammlung und der Jahrespressekonferenz. Plötzlich stand "der Stadler" im Rampenlicht: Der ehemalige Büroleiter von VW-Patriarch Ferdinand Piëch, der damals noch alle wichtigen Personalentscheidungen mitbestimmte, setzte sich gegen die bis dahin als gesetzt geltenden Ingenieure an der Spitze durch. Damals für viele eine Überraschung.
Die Staatsanwaltschaft München schafft nun neue Fakten
Anfangs wurde Stadler von der eigenen Mannschaft kritisch beäugt. Doch hinter der Entscheidung für den Finanzexperten steckte Kalkül: Die Weichen für die Erweiterung der Modellpalette hatte Vorgänger Martin Winterkorn bereits gestellt, Stadler sollte nun die Finanzen als oberster Mann des Unternehmens noch besser im Blick behalten und die Erträge steigern. Das gelang, aber ein Makel wurde ihm immer wieder von verschiedenen Seiten vorgeworfen − dass er viel zu zögerlich sei und wichtige Entscheidungen gerne vertage.
Nicht zögerlich, war er hingegen stets, wenn es um Dementis rund um den Dieselskandal ging. In der Vergangenheit kokettierte Stadler bei Autopräsentationen damit, dass er als Finanzer von technischen Details nicht so viel Ahnung habe. Nach außen agierte der Topmanager als Unwissender, trat als großer Aufklärer in Erscheinung und setzte hochrangige Mitarbeiter wie Ulrich Weiss, den ehemaligen Dieselmotorenchef in Neckarsulm, vor die Türe. Weiss betonte ebenfalls stets seine Unschuld.
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Jetzt schafft die Staatsanwaltschaft München neue Fakten. "Die Anklage gegen Einzelpersonen ist getrennt vom Verfahren gegen die Audi AG zu sehen, das bereits im Oktober 2018 mit einem Bußgeldbescheid in Höhe von 800 Millionen Euro abgeschlossen wurde", heißt es in einem Statement des Autobauers. Der Dieselskandal hat Audi seit dem Jahr 2015 bereits rund 3,4 Milliarden Euro gekostet. "Bis zur Klärung der Vorwürfe gilt für alle Beschuldigten die Unschuldsvermutung. Das gehört in einem Rechststaat zu den Grundprinzipien", betont der Autobauer weiter. Audi kooperiere mit den Ermittlern. Nun haben die Gerichte das letzte Wort.
Volkswagen
Der langjährige VW-Vorstandsvorsitzende Martin Winterkorn und vier weitere Führungskräfte des Volkswagen-Konzerns müssen sich wegen des Dieselskandals vor der Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Braunschweig verantworten, sofern die Kammer die Anklage zulässt. Die für den Firmensitz Wolfsburg zuständige Staatsanwaltschaft Braunschweig hat bereits im April Anklage gegen die Manager erhoben − unter anderem wegen besonders schweren Betrugs. Winterkorn beharrt bis heute darauf, von den Abgasmanipulationen erst im September 2015 erfahren zu haben. Derzeit prüft das Landgericht Braunschweig noch die Klage. Beobachter rechnen mit einem Prozess frühestens 2020.
Die Öffentlichkeit erwartet zu Recht, dass die Verantwortlichen verurteilt werden
Ein Kommentar von Alexander Schnell
Dass die Staatsanwaltschaft früher oder später Anklage gegen Rupert Stadler erheben würde, ist wahrlich keine Überraschung. Es besteht auch kaum Zweifel daran, dass sie zugelassen wird. Alles, was mittlerweile rund um den Dieselskandal bekannt ist, wirft kein gutes Bild auf den ehemaligen Audi-Chef. Vieles deutet darauf hin, dass Rupert Stadler nicht so unwissend war, wie er immer behauptet hat.
Klar: Die Unschuldsvermutung gilt bis zu einer möglichen Verurteilung auch für ihn und die anderen Beschuldigten. Fakt ist aber, dass bei Audi massiv betrogen wurde und dafür auch jemand die Verantwortung getragen hat. Nur scheibchenweise kam die Wahrheit in den vergangenen Jahren ans Licht: Spätestens ab Ende September 2015 soll Stadler von den Diesel-Manipulationen Kenntnis gehabt haben. Mutmaßlich sogar früher.
Wer den Konzern von innen kennt, hat daran keinen Zweifel. Nach jahrelanger Kleinarbeit sind die Ermittler allem Anschein nach hinreichend sicher, dass sie den Angeklagten ihre Straftaten nachweisen können. Bei schwerem Betrug drohen bis zu zehn Jahre Haft.
Das Unternehmen Audi hat seine Zeche für den Betrug zwar bezahlt. Die Öffentlichkeit erwartet nun von der Justiz, dass auch diejenigen zur Rechenschaft gezogen werden, die den Betrug veranlasst haben.
Die Anklage gegen den ehemaligen Vorstandschef kommt just zu einer Zeit, in der Audi den Weg aus der Krise sucht. Das macht einmal mehr deutlich, wie sehr die Vergangenheit immer noch auf dem Autobauer lastet, der jetzt die Herausforderungen der Zukunft meistern muss.