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Sind Stromleitungen gefährlich?

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Im Zuge der Energiewende wird das Netz in der Region ausgebaut. In Hohenlohe soll eine Freileitung entstehen. Geht von solchen Stromtrassen ein Gesundheitsrisiko aus?

Von Christian Nick

Es war ein Schock, damals im Jahr 2005: Wissenschaftler der Universität Oxford publizierten eine Studie, der zufolge Kinder, die im Abstand von maximal 200 Metern zu Hochspannungsleitungen aufwuchsen, deutlich öfter an Leukämie erkrankten als andere junge Menschen.

Ein Schock und eine Studie - mit langem Nachhall. Immer noch haben viele Menschen Sorgen und Bedenken: So auch aktuell in Hohenlohe angesichts der vom Betreiber Netze BW geplanten 110-Kilovolt-Trasse, die - zu weiten Teilen als Freileitung geführt - zwischen Rot am See und Kupferzell entstehen und den durch den Ausbau erneuerbarer Energiequellen anfallenden Strom abtransportieren soll. Und das ist nicht nur dort nötig: Auch die Kapazität bereits existierender Stromtrassen in der Region soll in den kommenden Jahren deutlich ausgebaut werden.

Sind die Grenzwerte wirklich ausreichend?

Die Sorge um die Gesundheit - ein Hauptargument der Kritiker. Und eine Frage, die bis heute wissenschaftlich nicht abschließend geklärt ist: Denn im unmittelbaren Nahbereich von Stromleitungen entstehen elektrische und magnetische Felder, die das menschliche Herz im Extremfall bis zum lebensgefährlichen Kammerflimmern reizen und nach neueren Studien möglicherweise bei starkem und langem - etwa berufsbedingtem - Einwirken auch neurodegenerative Erkrankungen die Demenz, Multiple Sklerose oder Parkinson verursachen können.

Sind Freileitungen also ein Risiko? "Die Grenzwerte schützen vor allen nachgewiesenen direkten Gesundheitswirkungen", sagt Jan Henrik Lauer, Sprecher des Bundesamts für Strahlenschutz (BfS). Aber er sagt auch: "Es gibt noch offene Fragen und wissenschaftliche Unsicherheiten."

Hunderte Studien

Deswegen forscht nicht nur das BfS intensiv: Allein 174 diesbezügliche Studien listet etwa die Literaturdatenbank der RWTH Aachen auf - alleine für 2018. Auch das BfS steckt in den kommenden fünf Jahren nochmals 18 Millionen Euro in genauere Untersuchungen zum Thema Strahlenschutz beim Stromnetzausbau.

Ist die Strahlen-Einwirkung denn bei einer von den Freileitungs-Kritikern geforderten Führung der Trassen unter der Erdoberfläche wirklich geringer? Das Magnetfeld unmittelbar oberhalb eines Erdkabels könne sogar höher sein als direkt unter einer Freileitung, so der BfS-Sprecher - allerdings sinke sie seitwärts wesentlich schneller ab. Das elektrische Feld werde bei Erdkabeln indessen tatsächlich vollständig abgeschirmt.

Andere Länder, andere Werte

Die Grenzwerte, die in der Praxis die Abstände bestimmen, die zwischen Stromleitung und Wohngebieten eingehalten werden müssen, sind laut Industrie und Behörden völlig ausreichend - für Kritiker wie Ruth Tischer (Interview siehe unten) indes nicht. Tatsächlich haben etwa die Niederlande und die Schweiz deutlich geringere Werte.

"Die niedrigeren Grenzwerte in einigen europäischen Ländern führen nicht zwangsläufig auch zu einer geringeren Exposition der Bevölkerung", relativiert der BfS-Sprecher. Denn anderswo seien sie teilweise anders definiert: bezögen sich etwa nicht auf die volle Auslastung oder gar nicht auf alle Bereiche.

Betreiber und Industrie beruhigen

Wie wurden denn die nationalen Strahlungs-Grenzwerte festgelegt? Aufgrund von Empfehlungen nationaler Gremien, wie der Strahlenschutzkommission, und internationaler Organisationen, erklärt Lauer.

"Die strikte Einhaltung der Grenzwerte der 26. Bundesimmissionsschutzverordnung gewährleistet, dass sowohl von unseren Erdkabeln als auch von unseren Freileitungen keine nachteiligen Wirkungen auf die Gesundheit von Menschen und Tieren ausgehen", sagt denn auch EnBW-Pressesprecher Jörg Busse auf Nachfrage.

Dennoch: "Aus grundsätzlichen Strahlenschutzerwägungen und wegen der noch bestehenden wissenschaftlichen Unsicherheiten" empfiehlt das BfS nun, alle neu zu bauenden Leitungen "vorsorglich" nicht mehr durch Wohngebiete hindurchzuführen, wie das bislang durchaus üblich war.

Strom ist im Fluss, die Wissenschaft auch

Und das Fazit? Alles also nur halb so wild? Sind Stromtrassen in der Gesamtschau nur so gefährlich wie Laserdrucker oder Kaffeemaschinen? Tatsächlich ist für das BfS "der Abstand zur nächsten Stromleitung nur ein sehr ungenaues Maß für das Magnetfeld in der Wohnung". Denn elektrische Geräte und Leitungen im Haus emittieren ebenfalls durchaus relevante Mengen an Strahlung.

Und die Oxford-Studie, die den Zusammenhang zwischen Trasse und Leukämie postuliert hatte? Eine aktuelle Auswertung von elf Studien, in denen der Zusammenhang zwischen dem Abstand der Wohnung zur nächsten Stromleitung und Leukämie bei Kindern untersucht wurde, zeige laut BfS, dass das Risiko nicht in der kleinsten Distanz-Kategorie am höchsten war, sondern im Abstand zwischen 150 und 200 Metern. Somit scheinen auch andere Faktoren, die mit der Nähe des Wohnorts zu einer Stromleitung zusammenhängen - wie Sozialstatus oder Mobilität - zu berücksichtigen. Aber: Es besteht weiterhin Forschungsbedarf. Nicht nur der Strom in der Leitung ist im Fluss - sondern eben auch die wissenschaftliche Erkenntnis.

 

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