Mehrsprachigkeit ist eine große Chance in der Kita und in den Familien
Jeder vierte Heilbronner hat einen ausländischen Pass, mehr als die Hälfte einen Migrationshintergrund. Mehrsprachigkeit ist auch von Hohenlohe bis Kraichgau tagtäglich gelebter Alltag – in der Arbeit, an Schulen, in Kindergärten und Kitas. Welche Chancen sich dadurch ergeben.

Prof. Dr. Nataliya Soultanian, Leiterin des Forums Frühkindliche Bildung Baden-Württemberg (FFB) erklärt, was notwendig ist, damit aus der Vielfalt Chancen für Kinder erwachsen und das multikulturelle und mehrsprachige Aufwachsen als Bereicherung und gesellschaftlicher Mehrwert anerkannt wird.
Ganz grundsätzlich: Was benötigen Kinder, damit sie eine Sprache gut erlernen?
Nataliya Soultanian: Menschen benötigen andere Menschen, um Sprachen zu lernen. Wir müssen einen ständigen Zugang haben zum Input. Übersetzt auf unseren institutionellen Kontext bedeutet das, dass der Besuch einer Kindertageseinrichtung für alle Kinder grundlegend ist und viele Kommunikationsanlässe mit Gleichaltrigen und Erwachsenen bietet.
Und wie ist es mit dem Erlernen mehrerer Sprachen?
Soultanian: Es gilt: Kinder werden je früher, desto besser mit zwei oder drei Sprachen konfrontiert. Und sie sollten einen ständigen Zugang in ihrem Alltag haben zu den Trägern dieser Sprachen. Ebenso wichtig ist die Gestaltung der Interaktion. Da sind wir Erwachsenen gefordert, damit die Kinder wirklich im Austausch als aktive Gestalter des Lernprozesses die Möglichkeit haben, sich sprachlich auszudrücken. Sprache hören ist wichtig. Sprache ausprobieren ist aber auch sehr wichtig.
Ist die Sprachvielfalt in Kitas und Kindergärten nicht auch ein Problem?
Soultanian: Ich würde uns alle einladen, insbesondere diejenigen, die im pädagogischen Bereich arbeiten, nicht diesen problemorientierten Blick aufzusetzen, sondern eine ressourcenorientierte Perspektive mitzubringen. Die Ausgangslage ist: Wir haben viele Familien, da werden ein oder zwei Erstsprachen gesprochen und dann kommt Deutsch als Umgebungssprache dazu. Wir können das nicht ignorieren und sagen: Wir sind hier in Deutschland, hier wird nur Deutsch gesprochen. Man sollte die Kompetenzen der Kinder in den mitgebrachten Herkunftssprachen aufgreifen und als Lernpotenzial nutzen sowie die Eltern bestärken, weiterhin mit den Kindern in ihren Erstsprachen zu sprechen.
Warum das?
Soultanian: Die Erstsprache ist ein wichtiges Fundament für das Erlernen weiterer Sprachen. Und je besser dieses Fundament ist, je besser sich ein Kind in seiner Erstsprache ausdrücken kann, wie vielfältig der Wortschatz ist, wie gut die Satzstrukturen sitzen, desto leichter erlernt es weitere Sprachen. Von daher müssen wir schauen, dass die Erstsprachen nicht abgelegt, sondern weitergesprochen werden. Da sind die Eltern gefragt, mit ihren Kindern in der Erstsprache zu reden, Dialoge zu führen, zu lesen und vorzulesen – das ist die beste Sprachförderung.
Und im Alltag von Kita und Kindergarten?
Soultanian: Im pädagogischen Alltag ist wichtig: Sprache lernen braucht Zeit, Raum und Personen. Die Kinder brauchen uns, brauchen Input. Brauchen ungeteilte Aufmerksamkeit. Sprache lernen geschieht am besten in kleinen Gruppen, in individuellen Kontexten. Und man muss Geduld haben. Wir hören immer wieder als Interpretation pädagogischer Fachkräfte: Das Kind ist noch nicht so gut, es macht noch Fehler. Ich sage: Gott sei Dank macht es die! Fehler machen, bedeutet sprachlichen Fortschritt. Ich probiere aus, ich setze die Sprache ein, ich kombiniere die Wörter miteinander. Fehler zeigen, dass ein Kind aktiv ausprobiert. Sie sind keine Schwäche.
Aber Fortschritte sollten sich schon auch einstellen.
Soultanian: Kinder lernen mit unerhörter Leichtigkeit Sprache. Das muss man im pädagogischen Kontext als wahnsinnige Ressource sehen und als Chance, sie dabei zu unterstützen. Kinder brauchen ein gutes Jahr, um die Grundstrukturen einer Sprache zu erlernen. Je später man eine weitere Sprache erlernt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass man dafür länger braucht und nicht auf muttersprachlichem Niveau spricht.
Wie profitieren deutschsprachige Kinder von der Vielsprachigkeit im Kindergarten?
Soultanian: Wenn sie von Anfang erleben, dass in der Einrichtung eine offene, wertschätzende, aufgeschlossene Akzeptanz für die Mehrsprachigkeit gelebt wird, lernen die Kinder: Die Norm ist es, viele Sprachen zu sprechen. Das ist eine sehr grundlegende Haltung, die wir Kindern vermitteln können. Andererseits setzen sich die Kinder sehr aktiv mit verschiedenen Sprachen auseinander. Welche Sprachen gibt es überhaupt? Was steht hinter eine Sprache? Welche Kultur, welche Gebräuche … Indem ich Kinder einlade, sich Gedanken zu machen, profitieren alle davon. Abgesehen davon bereichert es auch, Begriffe in einer anderen Sprache zu lernen und motiviert für den weiteren schulischen Weg. Sich an die Klänge anderer Sprachen zu gewöhnen ist, ein spannender Entdeckungsweg.
Damit das geschieht, bedarf es der Erwachsenen, die Impulse setzen?
Soultanian: Ja. Vieles gestalten Kinder aber auch selbst, haben ihre eigenen Regeln, führen selbst Regie. Pädagogische Fachkräfte können hier eine wachsame Begleitung bieten, Kommunikation zwischen den Kindern ermöglichen: viel mit ihnen sprechen, als sprachliche Stütze fungieren. Ein uraltes, aber bewährtes Medium sind Printmedien wie Bücher und Zeitungen. Mit ihnen können wir vertiefende Dialoge schaffen, die nicht nur Unmittelbares ansprechen, sondern Brücken schlagen zum Wissen der Kinder, sodass sie lernen, zu kommunizieren – über vergangene Ereignisse, über das was noch kommt. All das brauchen sie als gute Schulvorbereitung, um dann auf einem anderen Niveau mit Texten zu arbeiten.
Welche Chancen entstehen für die Familien, die nicht originär deutsch sprechen, wenn das Kind im Kindergarten sprachlich gefördert wird und dann die deutsche Sprache zurückträgt in die Familie?
Soultanian: Es ist grundsätzlich sinnvoll, dass die Einrichtung die Familien einlädt und einbezieht, um in den Dialog zu kommen. Wenn man eine offene Dialogkommunikation pflegt, werden sich viele dieser Familien auf diese Arbeit einlassen und gerne den ihnen möglichen Beitrag leisten. Die Eltern einzubeziehen, ist nicht nur in sprachlicher Hinsicht wichtig, sondern auch, um ihnen zu zeigen, wie die Kinder lernen, wie ein deutscher Kindergarten funktioniert, worauf wird wert gelegt: auf Selbstständigkeit, auf Problemlösungskompetenz, auf soziale Kompetenzen, auf Selbstregulation, auf Dialog auf gleicher Höhe mit den pädagogischen Fachkräften, auf sehr starke Beteiligung der Kinder im Alltag. Das sind sicherlich für viele Familien mit anderen kulturellen Hintergründen viele Aha-Effekte. Und wenn sie sehen, dass das Kind schnell Deutsch lernt und dann gut kommunizieren kann und zu neuen Kontakten und Freundschaften kommt, dann ist das motivierend für die gesamte Familie, diese Mehrsprachigkeit auch zu leben.
Zur Person
Prof. Dr. Nataliya Soultanian leitet die 2020 gegründete Landeseinrichtung Forum Frühkindliche Bildung Baden-Württemberg (FFB). Das FFB unterstützt die Überführung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die pädagogische Praxis, um die Professionalität im frühkindlichen Bereich weiterzuentwickeln. Mittel sind insbesondere Vortragsreihen, Infoportale und Netzwerktreffen sowie Fort- und Weiterbildungsangebote. Zentrale Plattform ist die Webseite www.ffb-bw.de.
Von 2009 bis 2019 leitete Prof. Dr. Nataliya Soultanian den Studiengang „Kindheitspädagogik“ an der SRH Hochschule Heidelberg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind unter anderem kindliche Mehrsprachigkeit und Sprachbildung.
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