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Neckarsulm
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Konzept gegen den Verkehrsinfarkt

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Das Pendlervolumen nimmt in der Region seit Jahren zu. Jetzt präsentieren Lokalpolitiker ein erstes Konzept gegen den Verkehrsinfarkt. Das Potenzial ist groß, doch wie hoch sind die Hürden?

Von Christian Gleichauf
Von Erlenbach her bewegt sich jeden Morgen eine Kolonne an Fahrzeugen, die hier häufig auch ins Stocken gerät. In der Regel sitzt in jedem Auto eine einzige Person. Das soll sich ändern.
Fotos: Christian Gleichauf
Von Erlenbach her bewegt sich jeden Morgen eine Kolonne an Fahrzeugen, die hier häufig auch ins Stocken gerät. In der Regel sitzt in jedem Auto eine einzige Person. Das soll sich ändern. Fotos: Christian Gleichauf  Foto: Gleichauf, Christian

So viele Autos schieben sich morgens und abends nach und durch Neckarsulm, dass der Verkehr häufig zum Erliegen kommt. Zeit, etwas dagegen zu unternehmen, dachte sich der langjährige Stadtrat und Grünen-Politiker Horst Strümann. Sein Motto: "Aus eins mach zwei plus x". Er möchte die Berufstätigen dazu bringen, nicht mehr allein ins Auto zu sitzen, sondern zu zweit oder dritt.

1,1 statt zwei oder drei

"Das Problem ist, dass derzeit im Schnitt nur 1,1 Personen in jedem Fahrzeug sitzen", sagt Strümann. Diesen Wert gelte es zu erhöhen. Weil Appelle an die Pendler bisher aber wenig ausgerichtet haben, setzt Strümann nun auf sanften Druck und ein Anreizsystem, damit Menschen sich für die Fahrt zur Arbeit und nach Hause gemeinsam ins Auto setzen. Der Druck: 40 Euro soll ein Parkplatz für einen Mitarbeiter kosten, wenn der weiterhin allein mit seinem Auto zur Arbeit kommt. Der Anreiz: Kostenlose Premium-Parkplätze und weitere Boni gibt es, wenn man sich zu zweit, zu dritt oder zu viert auf den Weg gemacht hat. So die Idee.

Umsetzen kann sie allerdings nur gemeinsam mit den Firmen. Und auf die kommt es jetzt an. Die profitierten dadurch, dass sie keine weiteren Parkhäuser bauen müssen, dass Waren wieder pünktlich ans Ziel kommen, dass ihre Mitarbeiter weniger Zeit auf der Straße verbringen. "Entscheidend ist, dass man insgesamt die kritische Masse erreicht", sagt Strümanns Mitstreiter Volker Raith. Wenn genügend mitmachten, reduziere sich die Zahl der Fahrzeuge so sehr, dass der Verkehr wieder rollt.

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Dazu käme der Imagegewinn. Das Konzept - sollte es funktionieren - könnte Beispiel für viele andere Städte sein. "Denn das Thema kommt auf alle zu", ob mit dem "Taxiunternehmen" Uber oder von anderen Firmen aus dem Silicon Valley, warnt Strümann. Da sei es doch besser, selbst etwas auf die Beine zu stellen, die Kontrolle zu behalten und Pionier zu sein.

Horst Strümann (li.) und Volker Raith möchten den Verkehr in Neckarsulm reduzieren. Dazu haben sie sich Gedanken gemacht, wie die Menschen animiert werden könnten, auf das eigene Auto zu verzichten oder Kollegen zusteigen zu lassen.
Horst Strümann (li.) und Volker Raith möchten den Verkehr in Neckarsulm reduzieren. Dazu haben sie sich Gedanken gemacht, wie die Menschen animiert werden könnten, auf das eigene Auto zu verzichten oder Kollegen zusteigen zu lassen.  Foto: Gleichauf, Christian

Das Potenzial ist groß in einer 26.000-Einwohner-Stadt mit 35.000 Einpendlern. Die Zahlen des Statistischen Landesamts zeigen, dass beispielsweise aus Neuenstadt mehr als 1.000 Menschen jeden Tag nach Neckarsulm pendeln. Und auch im kleinen Eberstadt gibt es noch 240 Leute, die bei der Fahrt zur Arbeit ein gemeinsames Ziel Neckarsulm haben. Sie müssten nur zusammengebracht werden.

So groß das Potenzial, so hoch ist die Hürde. Die Firmen sollen nämlich nicht nur Geld von Mitarbeitern fürs Parken verlangen, sondern dieses Geld auch noch weiterreichen an eine zu gründende Gesellschaft. Die soll Software und App organisieren, sodass jederzeit der passende Fahrer oder Mitfahrer gefunden werden kann. "Es muss einfach sein für die Leute", sagt Strümann. Sollte es einmal nicht aufgehen, könnten Shuttle-Busse oder Car-Sharing-Autos bereitstehen. "Und wir brauchen Geld, um weitere Anreize zu finanzieren", sagt Strümann. Denn auch das kann er sich vorstellen: Wer sein Auto für Mitfahrer bereithält, könnte mit Bonuszahlungen belohnt werden. Doch das sind Details.

Geringes Risiko

Das Konzept ist nun raus an die Stadt. Strümann hofft, gemeinsam mit seinen Gemeinderatskollegen und Oberbürgermeister Steffen Hertwig etwas anstoßen zu können. An die Firmen ist er noch nicht herangetreten. Grundsätzlich hält er es aber für möglich, einen schnellen Versuch zu starten. "Was haben wir zu verlieren? Wenn es nicht funktioniert, dann wurden hier keine Millionen versenkt." Andererseits dränge die Zeit. Denn mit jedem neuen Parkhaus rückt der Stillstand rund um Neckarsulm etwas näher.

 

Reaktionen

Audi trägt mit mehr als 16.000 Mitarbeitern zu den Verkehrsproblemen in und um Neckarsulm bei. Zu einzelnen Vorschlägen möchte der Autobauer zu diesem Zeitpunkt keine Stellung nehmen. Grundsätzlich fördert Audi aber Fahrgemeinschaften, um den Berufsverkehr zu entlasten, wie Sprecherin Petra Haverkamp erklärt. "Dabei sehen wir großes Potenzial allgemein bei Mitfahr-Apps." Das Feedback der Mitarbeiter auf ein erstes Pilotprojekt sei durchweg positiv. Es sei nicht ausgeschlossen, dass man sich mit anderen Neckarsulmer Firmen auf einen gemeinsamen Anbieter einige. "Dass wir an Kooperationen interessiert sind, sieht man ja auch am Mobilitätspakt Heilbronn-Neckarsulm", so Haverkamp.

An diesem Pakt haben sich auch die Städte Heilbronn und Neckarsulm sowie das Land beteiligt. Neckarsulms OB Steffen Hertwig ist überzeugt, dass im Rahmen dieses Mobilitätspakts "auch innovative Ideen verfolgt werden müssen". Dazu habe er die Arbeitsgruppe "Betriebliches Mobilitätsmanagement" ins Leben gerufen. Anfang 2018 sollen neben Audi und der Schwarz-Gruppe weitere Unternehmen eingeladen werden. "Der Konzeptvorschlag der Neckarsulmer Grünen weist in die von der Verwaltung angestoßene Richtung", so Hertwig. Er werde ihn in einbringen und zur Diskussion stellen. Keine Antwort gab es von der Schwarz-Gruppe. 

Das Konzept

Fahrverbote wie in Stuttgart könnten irgendwann auch in Heilbronn oder Neckarsulm drohen, warnt der Neckarsulmer Stadtrat Horst Strümann. Das allerdings fände er unsozial. Gleichzeitig sei ihm bewusst, dass der Ausbau des ÖPNV das morgendliche Stau-Problem nicht lösen kann. "Um die Hälfte der Neckarsulmer Pendler in Bussen abzuholen, bräuchte man 400 davon - voll besetzt. Das ist unrealistisch", sagt Strümann. "Im ländlichen Raum bleibt das Auto das wichtigste Verkehrsmittel." Gemeinsam mit Parteifreunden hat sich der Grünen-Politiker deshalb daran gemacht, ein Konzept zu entwickeln, um den Verkehrsinfarkt abzuwenden. 

 
 
 
 
Lebenszeit
Ein Kommentar von Christian Gleichauf
Christian Gleichauf
Christian Gleichauf

Soll der Verkehr in und um Neckarsulm weiter fließen, dann müssen viele gute Ideen umgesetzt werden, nicht nur eine. Der Vorschlag der Neckarsulmer Grünen ist daher zumindest ein Ansatz, den man sich genauer anschauen sollte

Frühmorgens auf fremde Menschen warten, ihnen hinterhertelefonieren, dann gemeinsam im Auto sitzen und sich womöglich zutexten lassen. Wer sich ausmalen möchte, wie anstrengend Fahrgemeinschaften sein können, braucht nicht viel Fantasie. Doch es geht auch umgekehrt. Eine kurze Statusmeldung in die App, auf zum Treffpunkt und dann entspannt und kostengünstig zur Arbeit. Irgendwo dazwischen liegt die Wahrheit. Doch die wollen viele gar nicht herausfinden. Sie setzen sich stattdessen ins Auto und fahren allein los. So lange, bis nichts mehr geht.

Der Mobilitätspakt, an dem sich Land, Städte, Nahverkehrsgesellschaften und Firmen beteiligen, hat bislang vor allem ein Gutes gehabt: Er hat alle Akteure an einen Tisch gebracht. Doch mit den bisher vorgestellten Maßnahmen werden sich die Zuwächse auf den Straßen nicht auffangen lassen. Allein die Zahl der Einpendler nach Neckarsulm hat sich innerhalb von vier Jahren um fast 13 Prozent erhöht. Damals stockte der Verkehr noch nicht so oft. Und das bedeutet, dass man die Zahl der Fahrzeuge nicht halbieren muss, um das Ziel zu erreichen.

Trotzdem werden sich Firmen schwer tun, Geld von ihren Mitarbeitern zu verlangen. Wen man einerseits mit Dienstwagen und vielen anderen Vergünstigungen nach Neckarsulm gelockt hat, den möchte man anschließend nicht für den Parkplatz zur Kasse bitten. Trotzdem besteht die Chance, dass ein Umdenken stattfindet. Denn im täglichen Stau sind alle gleich. Wer darauf angewiesen ist, zum Zeitpunkt X bei der Arbeit zu sein, muss schon heute so viel Puffer einplanen, dass - ob mit oder ohne Stau - viel Lebenszeit verschwendet wird. Und das Problem spitzt sich zu. Da lohnt es sich doch, neue Wege zu gehen.

 
 
 
 
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