"Ich halte mich nicht für besonders mutig"
Jörg Neubauer rettet im August 2017 eine Frau vor ihrem Ex-Freund, der sie erstechen will. Im Interview spricht er über seine spontane Reaktion und Courage.

Ein Auto kracht in ein anderes, ein Mann springt heraus, beugt sich in das andere Auto, sticht zu, eine Frau schreit – die Szenerie mutet bizarr an, ereignet sich im August 2017 aber genau so.
Jörg Neubauer will zur Arbeit fahren, hört die Schreie und verhindert das Schlimmste: Der 49-Jährige umklammert den Bewaffneten, zieht ihn vom Auto der Frau weg und rettet ihr damit womöglich das Leben – sie übersteht den Angriff schwer verletzt, der Täter kommt hinter Gitter. Seine Hilfe bringt dem Heilbronner nicht nur viel Anerkennung ein, sondern auch den Zivilcouragepreis, den der Verein "Sicher im Heilbronner Land", die Bürgerstiftung Heilbronn und die Stimme vergeben. Neubauer erzählt, was es mit dem Mutigsein auf sich hat.
Würden Sie es noch mal tun? Einen Mann mit Messer packen?
Jörg Neubauer: Wahrscheinlich schon. Aber ich kann das schwer sagen, es war ja keine rationale Entscheidung. Ich stand nicht da und habe überlegt, beobachtet und abgewogen.
Sondern?
Neubauer: Es war, als würde ein Schalter umkippen. Ich war wie in Trance, bin losgelaufen und habe den Mann mit beiden Armen umklammert und vom Auto weggezogen. Ich konnte nicht denken, es passierte einfach.
Hat er sich nicht gewehrt? Um sich geschlagen? Immerhin war er ziemlich in Rage...
Neubauer: Er hat sie lebensgefährlich verletzt, und ich bin mir sicher, dass er sie umbringen wollte und es auch getan hätte. Aber als ich ihn dann festhielt, war es, als würde ihm die Luft ausgehen. Als würde das ganze Adrenalin von einem Moment auf den anderen aus seinem Körper verschwinden. Ich habe ihn natürlich weiter festgehalten, aber er war dann ganz ruhig, hat sich nicht gewehrt. Ich habe ihn dann vor Ort auf eine Bank gesetzt, wo er sitzenblieb, bis die Polizei kam.
Wurden Sie selbst verletzt?
Neubauer: Nein. Ich habe aufgepasst, mich nicht an den Scherben des eingeschlagenen Autofensters zu schneiden, als ich ihn herauszog.
Finden Sie Ihre Tat mutig?
Neubauer: Ich bin eigentlich ein eher ruhiger Mensch und ich halte mich nicht für besonders mutig. So etwas hatte ich bis dahin noch nie gemacht und war selbst überrascht, wie schnell alles ging. Und ich hoffe ehrlich gesagt auch, dass es das letzte Mal war.
Aber es gibt ja Leute, die etwas tun, und andere, die weitergehen. Erinnern Sie sich, ob Mut in der Erziehung zu Hause eine besondere Rolle gespielt hat?
Neubauer: Ich bin in Hofen aufgewachsen, das ist in der Nähe von Bönnigheim, zusammen mit meinen Eltern und meiner zwei Jahre jüngeren Schwester. Wir sind in einer relativ behüteten Welt aufgewachsen, denke ich. Mit Kirschenernte von den eigenen Bäumen auf dem Gartengrundstück und Wiese mähen mit der Sense. Ich war damals nicht der Typ, der Mutproben gemacht hat, um in die Bande in der Schule aufgenommen zu werden. Und an eine spezielle Botschaft meiner Eltern in der Erziehung zum Thema Mut kann ich mich nicht erinnern. Dass unsere Eltern beide innerhalb recht kurzer Zeit gestorben sind, hat denke ich nichts mit meinem Verständnis von Mut zu tun.
Wie hat denn Ihr Umfeld reagiert? Ihre Familie? Kollegen?
Neubauer: Die Kollegen haben es recht schnell mitbekommen, die Kriminalpolizei ist bei meiner Arbeit in Erligheim vorbeigekommen, um mit mir zu sprechen. Bei den Kollegen war schon viel von Held und "wir sind stolz auf dich" die Rede. Insgesamt waren es positive Reaktionen. Bei der Familie war das Besondere, dass sie das Geschehen quasi live mitbekommen hat. Meine Frau und meine Tochter haben den Knall des Unfalls gehört und aus dem Fenster unserer Wohnung geschaut. Meine Tochter hat den Notruf abgesetzt, meine Frau ist mit dem Verbandskasten auf die Straße gekommen. Die fanden es auch gut, konnten aber zuerst gar nicht begreifen, was passiert.
Morgens um 7 Uhr rechnet man vielleicht auch nicht mit so einer Tat vor der Haustür. Sie waren auf dem Weg zur Arbeit ... Sind Sie danach hingefahren?
Neubauer: Ja. Das klingt merkwürdig, war aber eine gute Entscheidung. Zu Hause hätte ich nur angefangen, darüber nachzudenken, was ich noch hätte tun können, um der Frau zu helfen. Immerhin bin ich Ersthelfer am Arbeitsplatz. Aber ich war um halb neun in Erligheim bei der Arbeit. Aber, wo ich darüber nachdenke, war es ziemlicher Zufall, dass ich erst um 7 Uhr an meinem Auto und zur richtigen Zeit am richtigen Ort war.
Was meinen Sie mit Zufall?
Neubauer: Im Grunde lag es an der Himbeerbrause. Die wollte ich mit zur Arbeit nehmen und musste sie aus dem Keller holen. Deswegen bin ich einen Umweg gegangen und war ein paar Minuten später dran als sonst. Ich hatte gerade meine Tasche auf den Rücksitz von meinem Auto gelegt und wollte einsteigen, als ich es hinter mir laut krachen hörte.
Empfinden Sie Ihre Wohngegend hier als gefährlich?
Neubauer: Überhaupt nicht. Wir wohnen seit 24 Jahren hier, sind einmal innerhalb der Herbert-Hoover-Siedlung umgezogen. Es ist schön hier. Nicht nur das Leben in den ehemaligen Offizierswohnungen, sondern auch die Umgebung. Viel Grün, die Weinberge ganz nahe, auch der Supermarkt und die Bushaltestelle sind nicht weit weg.
Würden Sie jemand anderem raten, in derselben Situation das Gleiche zu tun wie Sie?
Neubauer: Das ist ganz schwierig und muss jeder selbst entscheiden in so einer Situation. Ich will da gar keine Tipps geben, weil es eben auch für den, der eingreift, eine sehr gefährliche Situation ist. Aber ich denke, man sollte auf jeden Fall helfen, egal auf welche Weise. Wenn man nicht selbst eingreift, dann muss man auf jeden Fall Hilfe holen. Ein Handy haben heutzutage doch die allermeisten dabei. Damit kann man dann Fotos von der Tat und den Tätern machen, das hilft bei der Aufklärung.
Machen Sie die Erlebnisse vorsichtiger? Oder couragierter?
Neubauer: Da es eine spontane Reaktion war, kann ich auch schwer sagen, ob ich mutiger geworden bin. Ich denke, ich würde das Gleiche wieder tun, ja. Aus denselben Gründen. Generell bin ich schon vorsichtiger geworden. Man schaut nach so etwas einfach aufmerksamer nach links und rechts, wenn man aus dem Haus geht. Ich meine, der Täter hat eine langjährige Haftstrafe bekommen und sitzt noch eine Weile im Gefängnis. Aber irgendwann kommt er wieder frei. Immerhin sitzt er wegen meiner Tat und meinen Aussagen eine lange Zeit im Gefängnis, vielleicht will er sich rächen. Da denke ich schon ab und zu darüber nach. Aber allzu schlimm ist es nicht, ich schlafe gut.
Jörg Neubauer wird 1969 in Bönnigheim geboren. Er wächst im Bönnigheimer Stadtteil Hofen auf. Nach der Schulzeit absolviert er eine Lehre als Elektroinstallateur. Nach dem Grundwehrdienst kehrt er in seine Heimat Hofen zurück. Seit 28 Jahren arbeitet er bei der Firma Staiger in Erligheim. Im Jahr 1994 zieht er mit seiner Partnerin in die Heilbronner Herbert-Hoover-Siedlung, sie heiraten ein Jahr später. Das Paar hat eine 19 Jahre alte Tochter.