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Schweighofen/Heilbronn
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Ein Sprung aus 4000 Metern Höhe

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Erst Angst, dann Glück, am Ende ein Gefühl, das bleibt: Stimme-Redakteurin Stefanie Sapara hat einen Sprung mit Fallschirm-Weltmeister Klaus Renz gewagt.


 

Was war es? Ich überlege die ganze Zeit. Auf der Heimfahrt im Auto und abends im Bett. Freiheit, davon sprechen viele, wenn sie Fallschirmspringen. Vom Traum des Fliegens. Aber da war noch etwas anderes. Dieses Gefühl, das mich so sehr überwältigt hat. Einen Tag später, als ich in Gedanken wieder und wieder gefallen bin, versucht habe, nachzuspüren, was nach dem Schritt in den Himmel passiert ist, weiß ich plötzlich, welches Wort ich suche: leicht. Ich war leicht, schwerelos, wie noch nie in meinem Leben. Alles an und in mir und alles um mich herum. Und wann immer ich seither nach oben sehe, hinauf zu den mächtigen weißen Wolkentürmen, erinnere ich mich genau daran. An diesen Zauber.

Dabei hat die Geschichte ganz anders angefangen. Mit einem Flachs unter Kollegen im Herbst 2019. Einem darauf folgenden Telefonat mit Fallschirmspringer Klaus Renz. Der Absicht, sofort wieder abzusagen, noch ehe ich richtig zugesagt hatte. Schlecht nur, dass Klaus so nett war - in der Lage, mir den Sprung so emotional wie sensibel zu erklären, dass ich mich plötzlich Ja sagen hörte. Dem Kopfmenschen in mir einen Schubs gebend. Wir verabredeten uns für das Frühjahr, und das war beruhigend weit weg. Doch dann kam Corona - und ich hakte den Sprung innerlich ab. Bis Klaus schrieb: "Wie sieht's aus, 15. August?" Ein Herz, das in die Hose rutscht, kann man durchaus spüren. Denn das einst zuversichtliche Ja war plötzlich gar nicht mehr zuversichtlich.

Schweißnasse Hände vor dem Sprung

Eine Woche vor dem Sprung liege ich mit schweißnassen Händen im Bett, mit Gedanken an sich öffnende Flugzeugtüren und sich nicht öffnende Fallschirme. Aber der Termin steht. Der reservierte Flug. Klaus, der extra aus Stuttgart in die Südpfalz fährt. Ich bringe es nicht über mich, abzusagen. Die vorletzte Nacht ist die schlimmste. Ich schreibe Klaus am Folgemorgen, frage wie viele Dutzend Karabiner er verwendet. Ich sehe mich im freien Fall auf die Erde zu. "Vier", schreibt er. Smiley. Und: "Hab Vertrauen."

Die Anfahrt nach Schweighofen, direkt an der deutsch-französischen Grenze, dauert eineinhalb Stunden. Ich habe einen Zustand erreicht, in dem ich nicht mehr grüble, sondern nur noch aufnehme. Zuallererst die Atmosphäre auf dem kleinen Flugplatz, auf dem der Verein Fallschirmsportcentrum Südpfalz sein Zuhause hat. Hier finden nicht nur Tandemsprünge statt, hier wird auch ausgebildet. Und so herrscht lebensfrohes, entspanntes Treiben an diesem Samstagmittag. Fast wie ein Wohnzimmer wirkt die Flughalle. Poster und Fotos an der Wand, Pokale, die in den Regalen thronen, an den Seiten stehen dicke Ledersofas, manch einer ruht sich darauf aus. In der Mitte wird gepackt. Fallschirme. Ich schlucke. Verdammt klein, dieser Rucksack, der mich später am Leben halten soll.

Ein Kribbeln im Bauch

Kurz darauf steht er vor mir: Fallschirm-Weltmeister Klaus Renz. Strahlend. Verschmitzt lachend. Klar, das ist ja die Frau, die gerne ein Dutzend Karabiner zur Befestigung hätte. Die sogar am Ersatzfallschirm zweifelt. "Du bist nicht die einzige, die sich Sorgen macht", sagt er beschwichtigend. Das macht mich zwar nicht ruhiger, aber immerhin nicht zum übertrieben angstvollen Hasen. "Setz dich doch, ich bin gleich da", dann ist er schon wieder verschwunden.

Neben der Halle, direkt am Flugfeld, gibt es einen Kiosk und Bierbänke. Es dauert nicht lange, bis sich am Himmel die ersten Fallschirme auftun. In meinem Magen kribbelt es. Doch dann sehe ich sie landen. Langsam. Unaufgeregt. Sachtes Senken, Bremsen, Stehen. Und schon zieht die nächste Truppe los in Richtung Propellermaschine, die bis zu zehn Leute in die Luft bringt - Corona-konform mit Maske, springen ist dann ohne erlaubt. 4000 Meter nach oben geht es für sie gleich. Als Klaus zurückkommt und sich setzt, erklärt er: "Das ist die übliche Absprunghöhe, darüber wird es mit dem Sauerstoff eng." 4000 Meter ... das bedeutet konkret: 45 Sekunden freier Fall, in 1500 Metern Höhe Öffnen des Fallschirms, anschließend fünf bis sieben Minuten Gleiten zurück zum Flugplatz.

Ein Springer mit großer Erfahrung

Zwar kommen all diese Infos durchaus in meinem Kopf an, dass ich gleich selbst in diese Maschine steigen soll, kommt mir allerdings höchst surreal vor. Klaus lacht. Immer noch. Was nicht heißt, dass er den Sport nicht ernst nimmt. Im Gegenteil. Seit er 16 Jahre alt ist, springt er. Hat Rekorde gesammelt und Medaillen, ist bei minus 53 Grad über der Antarktis abgesprungen. Rund 7500 Sprünge hat der heute 52-Jährige in seinem Leben absolviert. Die Liebe dazu ist beständig. "Für mich ist das mit nichts auf der Welt vergleichbar, so faszinierend ist es." Er erzählt derart begeistert, dass ich den überspringenden Funken erneut spüre. Wie damals am Telefon, als ich Ja sagte.

Auch am Sprungtag nimmt sich Klaus viel Zeit für seine Tandemspringer. Beim Ankommen, wenn jeder aufgeregt ist. Genauso hinterher, beim Teilen des Erlebten. "Gutes Vertrauen zum Tandemmaster ist die halbe Miete, was Angst angeht", weiß er. Auch ich empfinde es so. Ob es bei ihm selbst je welche gab? "Nein", sagt er. "Aber immer Respekt." Statistisch gesehen passiere extrem wenig, dennoch: "Das maximale Verletzungsrisiko ist natürlich höher als beim Tischtennis oder Volleyball. Das gilt für jeden Luftsport." Entsprechend verantwortungsvoll und gewissenhaft müsse man sein. Immer. Egal wie routiniert, noch heute gehe er auf dem Weg zum Flugzeug jedes Mal die Notfallmaßnahmen durch, sagt Klaus.

Und dann geht es ab ins Flugzeug

Doch dann: genug geplaudert. Ich darf einen Blick ins Flugzeug werfen. Ziehe den Gurt an. Stülpe die dicke Ledermütze über den Kopf. Und ich sauge auf, als Klaus erzählt, wie der Ablauf sein wird - in der Theorie. Dann geht in der Praxis alles ganz schnell. Einsteigen! Klaus schnallt sich den 19-Kilo-Rucksack auf den Rücken. Die Propeller drehen sich schon, der Trupp - vier Tandems, zwei Einzelspringer - läuft übers Flugfeld zur Maschine. Wir rollen an, heben ab. Immer kleiner wird die Welt. Und ich bin seltsam ruhig. Aufgeregt, ja, im Ungewissen, was kommt. Aber die Hände sind trocken. Und sie bleiben es. Als wäre alle Angst aufgebraucht, daheim im Bett, in den vergangenen Nächten. Hier oben ist keine mehr. Wir steigen und steigen und hunderte bauschige Schafe empfangen uns am blauen Himmel. Die Sommersonne, die leuchtend durch watteweiße Wolken fällt.

Dann ist er da, der Moment, vor dem die Angst am größten war: Die Tür wird aufgezogen. Der Wind stößt hinein, doch kalt ist es nicht. Etwa 25 Grad weniger als am Boden - an diesem heißen Sommertag erfrischend kühl. Nun wird nicht mehr viel geredet. Nicht mehr überlegt. Wie die Ameisen purzeln die ersten drei Tandems hinaus. Dann sind wir dran, rutschen wie besprochen, eng aneinander-karabinert, auf den Knien zur Tür. Stoppen. "Jetzt die Füße runterhängen", sagt Klaus. Auf die Rampe stellen. Ich blicke 4000 Meter ins Nichts, doch ich habe kein greifbares Empfinden mehr für diese Höhe. Der Boden ist einfach zu weit weg. Ich warte. Nur kurz. Dann lässt Klaus los.

Wie ein Felsklotz im Sturzflug

So viele Generationen Menschen wünschten sich, fliegen zu können. Weil man beim Blick in den Himmel jene Freiheit ersehnt, die ein Vogel doch so sicher spüren mag. Ist es so? Wir wissen es ja nicht. Aber ich weiß, was in mir vorgeht: Ich werde zu einem einzigen großen Staunen. Ganz und gar überwältigt. Um mich herum nur Luft, tief unten die Erde, über die ich unendlich weit blicken darf. Mein Mund ist so weit offen, er wird ganz trocken - das einzige, das sich fremd anfühlt. Aber sonst? Keine Angst, kein Schmerz, nichts Unangenehmes. Im Gegenteil. Ich vergesse Klaus, ich vergesse alles. Ich fühle mich alleine mit mir und der Welt. Ohne Empfinden dafür, dass ich falle. 200 km/h? Wahrscheinlich ist es so. Sehr sicher sogar. Ich bin ein Felsklotz im Sturzflug. Aber einer, der sich wie eine Feder fühlt. Ich bin einfach da. Leicht. Zwischen Himmel und Erde.

Plötzlich ein Ruck. Minimal. Der Fallschirm ist offen. Waren das schon 45 Sekunden? Das Zeitgefühl geht völlig verloren. "Steffi, du bist gesprungen!", ruft Klaus und lockert den unteren Gurt, damit wir von der waagerechten Freifall-Position in die Senkrechte kommen. Ein Gefühl, als würde ich in der Luft stehen. Selig bis in die Zehenspitzen hänge ich am Fallschirm. Voller Vertrauen und im Glückstaumel die Aufmerksamkeit auf alles Schöne richtend, das ich sehen und spüren darf. Die Südpfalz, die nördlichen Vogesen. Die große friedvolle Stille. Es ist so leise! Mucksmäuschenstill. Die Schäfchenwolken sind schon wieder weit oben. Fern. Dafür kommt der Flugplatz näher. Nur noch wenige Minuten, dann sollen wir sachte und stehend landen. "Ja!", rufe ich zurück. Ganz laut. "Ja!" Ich bin gesprungen. So ein Zauber. Mein Zauber. Ich fliege.

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