Die Stolpersteine sind sein Lebenswerk
Seit 1992 verlegt der Künstler Gunter Demnig die Gedenktafeln, um an Opfer des Nationalsozialismus zu erinnern - und erntet damit auch Kritik. Was er seinen Gegnern erwidert, berichtet er im Interview.

Seit Dezember letzten Jahres sind es 75.000 in Europa, allein 178 gibt es in Heilbronn. Eppingen kommt 2020 an die Reihe. Neben Anerkennung erntet der Künstler auch Kritik. Er betreibe Gedenken als Geldmacherei ist noch ein harmloser Vorwurf.
Eppingen plant, Stolpersteine zu setzen. Auf die Nachricht hin meldete sich ein Mann aus Israel, Nachfahre der deportierten Eppinger Juden und betonte, wie wichtig ihm die Geste ist. Kommt die Initiative häufig aus den Familien der Opfer?
Gunter Demnig: Grundsätzlich ist die Idee, dass die Initiative aus den Orten selbst kommen muss, übrigens auch die Finanzierung über Patenschaften. Meist sind es Historische Vereine, die den Anstoß geben. Aber dass Nachfahren die Initiative übernehmen, ist mehr geworden. Das ist ja auch in Israel eine andere Generation.
Inwiefern?
Demnig: Auch in Israel wurde lange geschwiegen. Diejenigen, die fliehen konnten, haben sich geschämt. Oder sie mussten sich Vorwürfe anhören, warum sie keine Waffe in die Hand genommen und sich gewehrt haben.
Für wen ist dieses Gedenken? Für die Nachfahren oder für uns hier in Deutschland?
Demnig: Für beide. Ganz wichtig sind für mich die Jugendlichen, die wissen wollen, wie so etwas im Land der Dichter und Denker passieren konnte. Wenn sie in der Schule von sechs Millionen ermordeten Juden hören, von vielen Millionen weiteren Menschen, die ermordet wurden, dann bleibt das eine abstrakte Zahl. Aber an Einzelschicksalen wird die Demütigung, die Entrechtung sichtbar.
Hat sich in Deutschland die Art, wie der NS-Zeit gedacht wird, geändert?
Demnig: Durch die Art, wie die AfD polemisiert und gegen die Stolpersteine hetzt, spüren wir auf der anderen Seite besonders viel Unterstützung und bekommen viele Spenden. Es war immer klar, dass die Stolpersteine nicht allen gefallen. Aber ich habe in 30 Jahren tatsächlich nur drei Morddrohungen bekommen.
Zur Person
Ingo Kuhbach wird 1974 in Heilbronn geboren, wächst in Gundelsheim-Obergriesheim auf. Schon als Kind sind seine Helden der heilige Franziskus, der Widerstands-Pater Rupert Mayer aus Stuttgart und Edith Stein. "Mich beeindruckt, welche Entbehrungen sie in Kauf nahmen, um ihrer Sache zu dienen." Nach dem Theologiestudium und der Priesterweihe wirkt er in Fellbach und Wangen. Seit 2006 leitet er die Seelsorgeeinheit Mittleres Jagsttal, seit 2015 ist er Dekan in Hohenlohe und sagt: "Die wichtigste Anrede für mich ist Pfarrer. Das bin ich mit Leib und Seele."
In Heilbronn gibt es viele Stolpersteine. Gibt es Regionen, die der Idee gewogener sind als andere?
Demnig: Nein, das kann man nicht an der Region festmachen. Aber es gibt Orte, an denen tatsächlich keine Juden gelebt haben. Es gibt immer mal wieder neue Forschungsergebnisse. In Bremen wurde bekannt, dass es 822 ermordete behinderte Menschen gab. Man muss sich klar machen, dass die ersten Gaskammern nicht für Juden waren, sondern für behinderte Menschen. Aber dieselben, die das gemacht haben, haben in Auschwitz weitergemacht.
Sind das Opfer, derer zu wenig gedacht wird?
Demnig: Es ist zumindest nicht so sehr im Bewusstsein, und man wollte es lange nicht wahrhaben. Kliniken haben gemauert und sich auf den Datenschutz berufen. Angehörige von ermordeten Behinderten haben gesagt: Lieber kein Stein. Die Leute könnten denken, es hat sich vererbt. Das ist aufgebrochen, ich merke das an der Zahl dieser Steine. Da spielen sich in den Familien bis heute Dramen ab.
Wie meinen Sie das?
Demnig: Ein Beispiel. In der Nähe von Frankfurt an der Oder kommt eine Enkelin, die ihre Familiengeschichte in der Schule aufgearbeitet hat, zu ihrer Oma und sagt: Oma, wusstest du, dass du mal eine kleine Schwester gehabt hast? Die Frau fiel aus allen Wolken, über das Schicksal der Schwester ist in der Familie nie geredet worden. Ich bin dann von Berlin da hingefahren, um diesen einen Stein zu verlegen. Das war eine alte Dame, sie sollte das noch erleben.
Beschäftigen Sie sich mit jedem Einzelschicksal?
Demnig: Das muss ich, weil jeder Text über meinen Schreibtisch geht. Wir sind mittlerweile neun Leute im Team, zwei kümmern sich um die Recherche und den Abgleich mit Datenbanken. Mir wird mitunter vorgeworfen, dass auf den Steinen nur Jahrgänge stehen. Es war aber einfach so, dass bei den genauen Geburtsdaten zu viele Fehler passiert sind.
Kritisiert wurde, dass auf den Steinen Nazijargon verwendet werde − wie "Gewohnheitsverbrecherin" als Grund für eine Verurteilung. Trifft Sie das?
Demnig: Ja, ich bin angegriffen worden. Anfangs habe ich noch Begriffe von Nachkriegshistorikern übernommen. Da hieß es etwa "verschollen in Auschwitz". Bis mir dämmerte: In Auschwitz ist keiner verschollen, das war Mord. Wer nicht aus Auschwitz zurückgekommen ist, ist ermordet worden. Oder es hieß "Selbstmord vor der Deportation". Daraus habe ich gemacht "Flucht in den Tod".
Steine, über die man geht. Gedenken in der Erde. Ist das nicht ein falsches Bild?
Demnig: Ich hatte anfangs tatsächlich Probleme, in die Erde zu gehen, hab mich aber kundig gemacht. Wenn du den Petersdom in Rom betrittst, läufst du über Grabplatten. Je mehr Menschen drüber laufen, desto größer ist die Ehre. Deshalb sind die Großkopferten im Eingangsbereich. Die Namen sind wichtig. Viele der Opfer haben weder Grab noch Grabsteine.
Charlotte Knobloch, ehemalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, zählt zu den heftigsten Kritikern. Sie sagte einmal, es sei "unerträglich", die Namen Ermordeter auf Tafeln zu lesen, auf denen mit Füßen herumgetreten werde.
Demnig: Ich halte das für vorgeschoben und für eine Verharmlosung, wenn sie sagt, auf den Namen werde herumgetrampelt, wie die Nazis auf den Juden herumgetrampelt sind. Die Nazis haben nicht herumgetrampelt, sie hatten ein Vernichtungsprogramm.
Die Schicksale sind sehr persönlich, Ihre Steine sind sehr uniform. Wird man mit dem immergleichen Objekt der Individualität gerecht?
Demnig: Jede Inschrift ist handgefertigt, das ist für mich ein ganz wichtiger Aspekt. Immer wieder wird mir gesagt: Das kannst du doch in der Fabrik fräsen lassen. Auschwitz war eine Fabrik, eine Todesfabrik. Die Steine sind individuell.
Kann Gedenken zur Routine werden?
Demnig: Routine? Die Korrekturen für die Steine mache ich am Rechner. Dann sehe ich da Namen von Familien, Vater, Mutter, zwei Kinder, drei Kinder. Viele Juden in Deutschland haben früh geahnt, was passiert. Aber wer gibt seine Kinder weg in der Annahme, dass er sie nie wiedersieht? Wer schickt seine Kinder in die Wüste nach Palästina? Denn Israel gab es damals noch nicht. Es sind immer wieder andere Schicksale. Wenn dann jemand zu mir sagt, das ist Routine, dem würde ich am liebsten in den Hintern treten. Wenn Angehörige aus Israel zu den Verlegungen kommen, fahren die mit einem anderen Deutschlandbild nach Hause.
Sie haben sich den Namen "Stolpersteine" schützen lassen. Kann man Gedenken monopolisieren?
Demnig: Es gibt in Deutschland ein Urheberrecht. Kein Künstler klaut eine Idee. Wenn das nachgemacht wird, verfälscht das die Inhalte.
Geldmacherei ist auch so ein Vorwurf.
Demnig: Da sag ich: Kinder, ihr glaubt, die fertigen Steine fallen vom Himmel. Mit meinem Auto bin ich in zwei Jahren 90.000 Kilometer gefahren. Wir sind neun Leute. Unter zwölf Stunden am Tag komme ich nicht weg, und so ein Stein kostet 120 Euro. Der Vorwurf ist mehr als absurd.
Wann ist das Projekt abgeschlossen?
Demnig: Irgendwann komme ich mit dem Rollator zu den Verlegungen. Ansonsten gibt es die Stiftung, das Projekt wird weitergehen.
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