"Das ist für Eltern eine unerträgliche Situation"
Die Pfiffigunde-Beraterinnen beleuchten den Kinderpornofall, beraten Betroffene und erleben einen plötzlichen Anstieg neuer Fälle. Sie sagen auch, dass es Warnsignale bei Tätern geben kann.

Der Kinderpornofall um einen Heilbronner Erzieher zieht weite Kreise. Dass einige Eltern sogar Schuldgefühle haben und wie man mit dem Fall umgehen sollte, erklären Monika Harsch und Tanja Haberzettl-Prach von der Heilbronner Fachberatungsstelle bei sexuellem Missbrauch und sexualisierter Gewalt, Pfiffigunde.
Gut ein Jahr lang gab es bei den Ermittlern offenbar keine Prüfung, was der Tatverdächtige im Kinderpornofall sonst tut. War das aus Ihrer Sicht fahrlässig? Müsste bei einem Fund von Tausenden Kinderpornobildern eine Abfrage nach privaten und beruflichen Hintergründen zum festen Standard werden?
Monika Harsch: Wir würden uns natürlich sehr wünschen, dass geprüft wird, ob und in welcher Form jemand, der Kinderpornografie konsumiert, mit Kindern in Kontakt ist. Häufig gibt es auf allen Ebenen zu wenig Fachwissen über die Dynamik von sexuellem Missbrauch, über Täterstrategien. Es ist nicht auszuschließen, dass, wer Kinderpornografie besitzt, auch körperlich die sexuellen Grenzen von Kindern verletzt.
Tanja Haberzettl-Prach: Der momentane Sachbearbeiter der Polizei ist sehr kooperativ, auch was unsere Beratungsstelle anbetrifft. Wir können uns jederzeit an ihn wenden, wenn wir einen Verdacht haben, dass es einen weiteren Fall geben könnte.
Eltern sind erschüttert über die Informationspolitik, aber auch extrem verunsichert, ob ihr Kind betroffen ist. Was raten Sie ihnen?
Harsch: Für die Eltern ist es eine unerträgliche Situation, nicht zu wissen, was mit ihren Kindern ist. Sie fühlen sich ohnmächtig. Wir bieten an, über Sorgen und Ängste zu sprechen, wie es dem Kind geht, ob es Verhaltensauffälligkeiten gibt. Man sollte das Kind nicht direkt befragen, weil Kinder da oft nicht einschätzen können, was die Eltern von ihnen wollen. Wir geben Hinweise, wie sie eine Gesprächsgrundlage schaffen können über Themen wie Gefühle, unangenehme Berührungen, Geheimnisse, Nein-Sagen, altersgemäße Aufklärung. Wichtig ist, dass die Kinder von sich aus erzählen und dem Kind nicht irgendetwas in den Mund gelegt wird.
Haben sich schon viele Betroffene an Ihre Fachstelle gewandt?
Harsch: Es waren bisher sechs Familien zum persönlichen Beratungsgespräch hier, auch zwei Erzieherteams, die wir begleiten.
Was sind da die wichtigsten Fragen?
Hasch: Bei beiden Gruppen ist es das Gefühl, wir haben doch vertraut, wie kann es sein, dass wir nichts gemerkt haben. Es gibt auch diffuse Schuldgefühle, weil Eltern der Einrichtung ihr Kind anvertraut haben, sie denken, dass sie ihr Kind nicht schützen konnten. Bei diesen Schuldgefühlen können wir Entlastung geben, über Täterstrategien sprechen, dass Täter Meister der Manipulation sind und es oft schleichende Grenzverletzungen sind − weil Täter Grenzen ausloten und erst nach und nach verschieben.
Wie viel bekommen die Kindergartenkinder von dem Wirbel mit?
Harsch: Schon sehr viel. Sie schnappen Dinge auf, vielleicht auch über ältere Geschwister. Viele wissen, dass es um Fotos geht. Manche vermissen den Erzieher auch, sie mochten ihn.
Wie wahrscheinlich ist es, dass ein Täter mit derart vielen Kinderpornobildern auf dem Computer auch den realen Kontakt zu Kindern sexuell ausleben will?
Harsch: Es gibt Täter, denen der Bilderkonsum reicht. Es kann aber auch der Einstieg sein und dass wie bei einer Sucht die Dosis gesteigert wird. Oder es kann sein, dass der Konsum von Kinderpornografie Teil eines Rechtfertigungssystems wird. Durch Kontakt mit anderen, die es ja auch tun, wird die eigene Hemmschwelle herabgesetzt.
Haberzettl-Prach: Wenn der Erzieher diese Neigung schon hatte und diesen Beruf dann wählte, ist es schon verwerflich. Das muss ein Gutachter klären. Ich kenne aus meiner Praxis keinen Fall, bei dem jemand so viele Fotos von Kinderpornografie sammelte und es nicht zum aktiven Übergriff kam, wenn dazu die Möglichkeit bestand.
Harsch: Wobei der Begriff Kinderpornografie in seiner Brisanz nicht erkannt wird. Er suggeriert ja etwas, was im Erwachsenenbereich legal ist. Es müsste eigentlich heißen, es sind Kindermissbrauchsabbildungen. Weil hinter jedem Foto eine Missbrauchstat steckt.
Haberzettl-Prach: Und jeder, der solche Fotos sammelt oder anschaut, schafft durch seine Nachfrage weitere Missbrauchstaten.
Gibt es bei Tätern Warnsignale, bei denen man hellhörig werden sollte?
Harsch: Hellhörig sollte man werden, wenn jemand ein freundschaftliches und nicht mehr professionelles Verhältnis zu einzelnen Kindern aufbaut oder diese deutlich bevorzugt, sich mit einzelnen Kindern im privaten Rahmen trifft. Oder Dienst und private Zeit so vermischt, dass Kontrolle und Kritik schwierig wird oder das Verhalten einen unguten Umgang mit Distanz und Nähe zeigt. Solche Verhaltensweisen werden deshalb in Schutzkonzepten und Ethikrichtlinien von Einrichtungen und Organisationen untersagt.
Was können derartige Nacktbilder mit Kindern machen?
Harsch: Es ist ein großes Spektrum. Das Allerschlimmste ist der Vertrauensmissbrauch, dass jemand, den sie gern haben, etwas von ihnen verlangt, was ihnen peinlich ist oder sie unangenehm berührt. Sie sind verwirrt, fangen an, ihrem eigenen Gefühl nicht mehr zu trauen, bauen eventuell Misstrauen gegenüber Erwachsenen auf und entwickeln Ängste. Es kann so weit gehen, dass die eigene Schamgrenze nicht mehr wahrgenommen wird − oder es kann auch traumatische Folgen haben.
Welche Auswirkungen hat dieser Fall bei Pfiffigunde?
Harsch: Die letzten Wochen gab es bei uns einen deutlichen Anstieg von weiteren Anfragen, wie wir ihn in 17 Jahren nicht hatten. Es sind in drei Wochen zehn Fälle über Fachleute reingekommen und drei von privat, alles Verdachtsfälle auf sexuelle Grenzverletzungen gegen Kinder und Jugendliche. Das ist auffällig.
Wie ist das zu erklären?
Harsch: Das Thema ist in der Presse präsent, wir sind in der Presse. Das Bewusstsein ist geschärft. Alle Fälle betreffen das familiäre und soziale Umfeld. Und ich kann nicht sagen, dass hier eine Hysterie auszumachen ist − es sind alles sehr berechtigte Anliegen.
Die Interviewpartnerinnen
Monika Harsch (50) ist Diplom-Sozialpädagogin und Therapeutin. Seit 16,5 Jahren arbeit sie bei Pfiffigunde, der Heilbronner Fachberatungsstelle bei sexuellem Missbrauch. Tanja Haberzettl-Prach (50) ist Fachanwältin für Strafrecht und vertritt oft auch Opfer von Straftaten vor Gericht. Seit Januar ist sie zweite Pfiffigunde-Vorsitzende.
Seit 25 Jahren gibt es die Fachberatung, die ein eingetragener Verein ist und durch Mitgliedsbeiträge und Spenden finanziert wird. 729 Fall-Anfragen und 456 Beratungsgespräche gab es 2017. In der Tendenz nähmen Fallzahlen leicht zu, sagt Monika Harsch. Und: Die Fälle würden komplexer, die Zeit der Betreuung länger.