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Heilbronnerin mit Aufklärungsvideos auf Tiktok: Nutzen und Gefahren von ADHS-Influencing

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Juliane Kleber postet regelmäßig Content über das Krankheitsbild in sozialen Medien. In Heilbronn bietet sie ADHS-Beratung an. Ihre Videos können Betroffenen helfen, bergen aber auch Gefahren.

Juliane Kleber ist Beraterin für Neurodiversität in Böckingen.
Juliane Kleber ist Beraterin für Neurodiversität in Böckingen.

Käse habe bei ADHS eine ganz besondere Wirkung. Das behauptet die ADHS-Beraterin und gelernte Apothekerin Juliane Kleber aus Heilbronn in einem Video auf Tiktok. Unerwartet schnellte das Video mit mehr als einer Viertelmillion Klicks durch die Decke. Neben ihrer täglichen Arbeit in ihrer Praxis in Böckingen postet die gebürtige Hamburgerin regelmäßig Videos auf Instagram, Tiktok, Facebook, Youtube und sogar Linkedin.

Die Aufklärung über das Krankheitsbild und den Leidensdruck, den Betroffene oft haben, liegen der 49-Jährigen besonders am Herzen. Denn auch in ihrer Familie gibt es Betroffene, die in der Vergangenheit missverstanden wurden. Ihr ist bewusst, wie gefährlich Aufklärungsvideos im Netz sein können – wegen möglicher Selbstdiagnosen oder ADHS-Hysterie. Dennoch fühlt sich die sechsfache Mutter bestärkt darin, weiterzumachen.  

Zu wenig Fachärzte für ADHS: Wissen bündeln durch Netzwerken

Juliane Kleber hat in Hamburg Pharmazie studiert und zog im Jahr 2000 der Liebe wegen nach Heilbronn. Inzwischen hat Kleber ihren zweiten Ehemann geheiratet und lebt gemeinsam mit seinen zwei Kindern und ihren vier aus erster Ehe im Stadtkreis Heilbronn. Die Herausforderung mit ADHS innerhalb der Familie traf sie früh und führte zunächst zu Verzweiflung, da es, laut Kleber, an kompetenten Beratungsstellen mangelte. "Immer noch ist das Angebot für Kinder dürftig und für Erwachsene so gut wie gar nicht vorhanden", meint Kleber.

Als sie Cordula Neuhaus aus Esslingen, eine international anerkannte Expertin für Verhaltenstherapie im Bereich der Neurodiversität entdeckte, entschied Kleber sich, an deren Seminaren teilzunehmen. Dies bestärkte sie in ihrem Wunsch, Menschen mit ADHS professionell zu unterstützen. "Ich finde es sehr wichtig, dass man die Leute über die Krankheitsbilder aufklärt, damit sich Betroffene selbst verstehen lernen aber auch von anderen verstanden werden können", sagt Juliane Kleber. 

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Mit der heute 72-jährigen Cordula Neuhaus, ist Kleber immer noch in engem Kontakt. "Eine Schweigepflichtentbindung erlaubt es uns, uns jederzeit über Patienten auszutauschen", erklärt die Apothekerin. Verschiedene Blickwinkel seien von großer Bedeutung, um Menschen richtig beraten zu können. Auch mit anderen Fachärzten sei sie in Kontakt und versuche ihr Netzwerk stetig weiter auszubauen, damit ihren Patienten auch an Stellen weitergeholfen werde, an denen sie selbst nicht weiter weiß. Das sei es, was ihre Praxis ausmache: "Eine Anlaufstelle für Menschen sein, die verzweifelt sind, weil sie nirgends Gehör und fundiertes Wissen finden", so die Expertin. 

ADHS in sozialen Medien: Sichtbarkeit und Bewusstsein schaffen

Um ihrem Ziel, ein Netzwerk aus Fachärzten zu schaffen und damit Wissen zu bündeln, näherzukommen, erstellt sie im Sommer 2023 für ihre Praxis Accounts auf Instagram, Tiktok, Facebook und später auf Youtube und Linkedin. Dort veröffentlicht sie regelmäßig Videos, die über ADHS aufklären sollen. Doch das ist nicht ihr einziger Beweggrund. 

Kleber, selbst keine Fachärztin, verfolgt zusätzlich das Ziel, die Sichtbarkeit ihrer Anlaufstelle für den Raum Heilbronn zu erhöhen, fachlich fundiertes Wissen zu vermitteln, einen Gegenpol zu den teils im Internet verbreiteten Fehlinformationen zu bieten und das Verständnis für das Krankheitsbild bei Betroffenen sowie Fachleuten zu verbessern. "Wir brauchen endlich auch Hausarztpraxen, die die Behandlungen übernehmen dürfen", so Kleber. "Menschen, die die Krankheit ernst nehmen und sich wirklich damit auskennen." 

"Es ist ein zweischneidiges Schwert": Juliane Kleber über das ADHS-Influencing 

"Das Internet schafft es, mich von einer Minute auf die andere denken zu lassen, ich sei todkrank." Kleber sieht Fluch und Segen in der Macht des Internets: "Es ist groß und weit, ich kann alles googeln und jeder kann was posten." Dass die Gefahr droht, dass ihre Zuschauer in eine Art ADHS-Hype verfallen, kann sie sich gut vorstellen. Allerdings findet sie das "völlig okay", so lange man glücklich mit der Annahme sei, dass man betroffen ist.

In ihrer Praxis für Neurodiversität in Böckingen, berät Juliane Kleber Menschen mit ADHS.
In ihrer Praxis für Neurodiversität in Böckingen, berät Juliane Kleber Menschen mit ADHS.  Foto: Privat

Auch der Gedanke, dass sie mit ihren Videos Selbstdiagnosen in den Wohnzimmern ihrer Zuschauer fördern könnte, schreckt sie nicht ab. Das sei in erster Linie nichts Schlechtes. Es komme nur darauf an, wie man danach handelt: Geht man zum Arzt und lässt es sich bestätigen?

Trotz ihrer Anerkennung, dass Digitalisierung und insbesondere die Reizüberflutung durch Kurzvideos, einschließlich ihrer eigenen, die Symptome von ADHS potenziell verstärken können, sieht Kleber sich in ihrem Vorhaben bestärkt, ihre Online-Präsenz fortzusetzen. "Die Reaktionen auf meine Videos sind fast immer positiv." Diese Rückmeldungen unterstreichen für sie die existierende Lücke im Bereich der Aufklärung und Unterstützung für Menschen mit ADHS und deren Angehörige. 

69 Euro pro 20 Minuten kostet eine Beratung in Klebers Praxis in Böckingen. Auf die Frage, warum der Preis so hoch ist, antwortet sie: "Wenn mir meine Gesundheit etwas wert ist und ich solch einen hohen Leidensdruck habe, dann ist das nicht viel Geld. Besonders wenn man erkennt, dass man große Erfolge durch die Beratung erzielt, wie beispielsweise die Wiederaufnahme des Vollzeitjobs."

Expertenmeinung: „Keine ideale Lösung, dennoch ein praktikabler Weg“– Fachärztin über die Arbeit von Juliane Kleber

Dr. med. Christina Brandt, Fachärztin für Psychologie, Psychotherapie und Neurologie aus Heilbronn findet die Arbeit von Kleber nicht verkehrt und erkennt die Wichtigkeit alternativer Beratungsangebote an. Sie gibt zu, dass es vorkommt, dass ADHS-Betroffene von Fachärzten abgewimmelt werden. „Wir möchten ja auch niemanden vor den Kopf stoßen, aber wir müssen im Rahmen der Kassenmedizin priorisieren. Wir haben keine unendliche Kapazität, aufwendige Diagnostik zu betreiben“, sagt Brandt.

Sie betont, dass Klebers Konzept aufgrund fehlender Schulmedizin vielleicht nicht die ideale Lösung sei, aber in Anbetracht der begrenzten Ressourcen im Gesundheitssystem und der hohen Nachfrage nach spezialisierter Betreuung, ein praktikabler Weg sein kann, um Unterstützung und Anerkennung für Betroffene zu bieten. 

Hinweis einer Fachärztin: ADHS-Beratung kein geschützter Begriff

Allerdings sei „ADHS-Beratung“ laut Brandt kein geschützter Begriff und könne damit alles oder nichts darstellen. Jeder, der solch ein Angebot in Anspruch nehme, sollte sich der möglichen Unterschiede zur schulmedizinischen Behandlung bewusst sein, sagt die 63-Jährige. An wen Betroffene sich letztendlich wenden, sei deren persönliche Entscheidung. „Wenn sie sich dort besser aufgehoben fühlen als bei einem Facharzt, dann ist das völlig in Ordnung“, so die Ärztin.

Als Apothekerin müsse Kleber bereits eine gewisse Expertise haben, meint Brandt. Zumindest in wissenschaftlichem Arbeiten. Klebers Verbindungen zu Fachärzten und Vertiefungen in Form von Seminaren, findet sie gut. „Dennoch würde ich weder dazu raten noch davon abraten“, sagt sie.  

Auf die Frage der Heilbronner Stimme, ob der Preis für Juliane Klebers Beratungsangebot gerechtfertigt sei, antwortet Brandt vorsichtig: „Eine ADHS-Diagnostik ist sehr aufwendig. Es gibt kein Röntgen oder MRT dafür. Auch Arztpraxen sind Unternehmen, die wirtschaftlich denken und handeln müssen."

„Das Medium hat sich vielleicht verändert“ – ADHS-Expertin über Aufklärungsvideos in sozialen Medien

Die 63-Jährige Heilbronner Psychologin und Neurologin Christina Brandt blickt positiv auf den digitalen Wandel und damit die Öffentlichkeitsarbeit Juliane Klebers in Form von ADHS-Videos in den sozialen Medien. Gefahren sieht sie keine. „Das Medium hat sich vielleicht geändert, aber der Wunsch nach Informationen ist schon immer präsent“, sagt Brandt. Sie unterscheide nicht zwischen den Aufklärungsvideos in sozialen Medien und traditionellen Informationsquellen wie Büchern. Allerdings sei es wichtig, dass Nutzer stets die Qualität und Glaubwürdigkeit ihrer Informationsquellen kritisch hinterfragen.

Keine Sonderbehandlung durch mehr Empathie in der Gesellschaft: ADHS-Betroffene sollen lernen sich zu integrieren

Dass die Videos zu mehr Verständnis unter der Bevölkerung zum Thema ADHS führen könnten, sieht Brandt als ein irrelevantes Argument. Mehr Empathie in der Gesellschaft sei grundsätzlich schön, soll aber nicht dazu führen, dass sich Betroffene darin bestärkt fühlen, ihr Fehlverhalten anzunehmen. Viel mehr sollen sie lernen, sich ohne Sonderbehandlungen in die Gesellschaft integrieren zu können, sagt Brandt. 

Positiv an den Aufklärungsvideos sieht die Ärztin viel mehr, dass dem Menschen der Anlass gegeben wird, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Selbstdiagnosen sieht sie demnach als harmlos an. Wichtig sei Brandt zufolge, dass man danach einen Facharzt aufsucht und sich seine Annahme sowie die Schwere seiner Störung nachweisen lässt. 

 

 

 

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