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80 Jahre Kriegsende: Zeitzeugen aus Heilbronn haben den Schrecken noch vor Augen

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Sie sind zwischen 93 und 102 Jahre alt und haben das Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 in Heilbronn noch wie heute vor Augen.


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Lange schien alles in weiter Ferne zu liegen, weit zurück in der Vergangenheit, vorbei. Doch Bilder aus der Ukraine und dem Nahen Osten führen uns den Schrecken plötzlich wieder tagtäglich vor Augen. Es ist noch gar nicht so lange, da sah es auch in Heilbronn so aus, vor genau 80 Jahren.

Heilbronn ist im Frühling 1945 eine Trümmerlandschaft

Der Stadtkern liegt seit dem Bombenangriff vom 4. Dezember 1944 in Schutt und Asche. Bis ins Frühjahr hinein wird die Geisterstadt weiter bombardiert. Das öffentliche Leben liegt am Boden. Wasser, Gas, Strom, Telefon - so gut wie nichts funktioniert mehr. Von vormals 14.500 Gebäuden im Stadtgebiet sind 5100 vollständig zerstört, 3800 schwer beschädigt.

Heilbronn glich 1945 einer Trümmerlandschaft; hier die Gaststätte Lamm mit Kilianskirche.
Heilbronn glich 1945 einer Trümmerlandschaft; hier die Gaststätte Lamm mit Kilianskirche.  Foto: Hermann Eisenmenger

Von 77.569 Einwohnern (1939) leben noch 33.000 hier; über 6500 kamen am 4. Dezember 1944 ums Leben, andere im Krieg, in Gefangenschaft, in den Konzentrationslagern der Nazis. Manchen gelang die Flucht ins Ausland.

Die meisten Menschen in der Heilbronner Altstadt hausen in Kellern oder Barracken

In der Kernstadt halten sich im April nur noch 7000 Menschen auf. Die meisten hausen in Baracken und Kellern. Dann endlich rücken von Westen die Alliierten vor, bleiben aber am Neckar hängen. Der "Endkampf" um Heilbronn dauert fast zwei Wochen.

212 deutsche Soldaten, 60 amerikanische und 64 Zivilisten sterben, 1769 deutsche Kämpfer werden gefangen genommen. Mit der Eroberung Sontheims am 13. April ist der Zweite Weltkrieg in der Stadt de facto zu Ende, in Deutschland erst am 8. Mai: mit der Kapitulation der Wehrmacht.


Hoch betagte Zeitzeuginnen schildern ihre Erlebnisse von damals

Soweit Zahlen, Daten, Fakten. Doch sie sind nur ein Teil der Geschichte. Hinter allem stecken Menschen, Schicksale. Die Heilbronner Stimme hat sich mit einigen hoch betagten Zeitzeuginnen im Richard-Drautz-Heim auf der Böckinger Schanz an einen Tisch gesetzt und sie von damals erzählen lassen. Wobei sich das Gespräch - wie so oft beim Kaffee, beim Mittagsessen oder auch sonst - nicht nur ums Gestern drehte, sondern auch ums Heute.

"Der Putin und der Trump, das sind die Hitler von heute"

Ruth Scheib (100) fackelt nicht lange. "Der Putin und der Trump, das sind die Hitler von heute", sagt die 100-jährige. Punkt. Nicht nur Alma Schmidt (93) pflichtet ihr bei. "Ich schaue immer Nachrichten und lese die Zeitung. Da fragt man sich schon: Wie wird das alles weitergehen?" Und: "Hoffentlich bleiben wir verschont. Es ist zum Heulen, die Menschen haben nichts dazugelernt aus dem ganzen Elend von früher."

Mit der kompletten Heilbronner Altstadt wurden am 4. Dezember 1944 das Rathaus  und der Deutschhof zerstört
Mit der kompletten Heilbronner Altstadt wurden am 4. Dezember 1944 das Rathaus und der Deutschhof zerstört  Foto: Eisenmenger, Hermann

Trotz allem ein gesegnetes Alter erreicht, wie ist das bloß möglich?

Automatisch drängt sich da die Frage auf, wie die hoch betagten Damen, trotz allem ein so gesegnetes Alter erreicht haben. "Man muss auch abschalten können und sagen: Jetzt ist es vorbei, wir schauen nach vorne", sagt Alma Schmidt. "Einfach normal leben, nichts übertreiben, nicht streiten", weiß Ruth Scheib (100) und berichtet von ihrer guten Nachbarschaft - und von der guten Betreuung im Heim, was allen voran Heimleiterin Silvia Dietz freut.

"Es ist auch eine Frage der Haltung: Die Damen hier sind immer optimistisch, zufrieden und positiv. Sie meckern eigentlich nie", so Dietz. Wichtig sei auch "der Austausch, das Zusammenkommen, egal, welche Nationalität man hat". Else Rau (93) hat einen ganz praktischen Tipp: "Ich esse mindestens drei Äpfel am Tag." Und die 102-jährige Else Drautz achtet schon lange auf eine gesunde Ernährung - seit ihrer Jugend. Rückblende.

Packende Berichte zum Über-Leben zwischen Ruinen und Trümmern

Else Drautz (102) erinnert sich gut an den 4. Dezember 1944. "Ich bin vielleicht eine Viertelstunde vorher vom Geschäft heimgekommen, da ging es auch schon los. Wir sahen die Leuchtraketen am Himmel und sind alle schnell in den Keller."

Ihr Wohnhaus an der Jägerhausstraße 7 sei von den Bomben verschont worden, so dass dort bald viele Angehörige Unterschlupf gefunden hätten. "Die Stube war proppenvoll. Und unsere Mutter hat für alle gekocht. Hunger mussten wir nicht leiden", berichtet sie, weil das in Böckingen stehende Reformhaus ihrer Familie weiter betrieben werden konnte.

Sie haben in ihrem langen Leben viel erlebt. Im Richard-Drautz-Heim tauschten sie im Gespräch mit der Heilbronner Stimme Erinnerungen an das Kriegsende aus (von links): Else Rau (93), Alma Schmidt (93), Ruth Scheib (100), Anna Lehnert (100) und Else Drautz (102).
Sie haben in ihrem langen Leben viel erlebt. Im Richard-Drautz-Heim tauschten sie im Gespräch mit der Heilbronner Stimme Erinnerungen an das Kriegsende aus (von links): Else Rau (93), Alma Schmidt (93), Ruth Scheib (100), Anna Lehnert (100) und Else Drautz (102).  Foto: Seidel, Ralf

Else Rau (93) hat den Ruf des Luftschutzwarts noch in den Ohren: "Alles raus!" Kurz darauf sei ihr Elternhaus an der Fischergasse "total zerstört" gewesen. Der Vater und eine Schwester kamen ums Leben. Sie konnte sich ans Ufer des nahen Neckars retten. "danach wohnten wir acht Jahre in Böckingen. Vier Leute in einem Zimmer mit zwei Betten".

"Wenn wir mal etwas hatten, mussten wir es beim Bauern gegen einen Löffel Schmalz eintauschen. Und wenn ich mit meiner kleinen Schwester Helga kam, machten sie uns abends die Milchkanne voll." Ab und zu kam man wenigstens ins Kino: bei der Kali Chemie oder in Böckingen, wo in großen Saal sogar ein wärmender Ofen stand. Nie wird sie vergessen, wie eines Tages jemand rief: "Ihr braucht nicht mehr im Keller bleiben. Der Krieg ist aus."

Ruth Scheib (100) aus Sontheim hat damals in der Schlosserei Zimmermann "in einem Rüstungsbetrieb" gearbeitet und berichtet, wie es bis zum Kriegsende noch täglich Fliegeralarm gab und "öfter die Scheiben kaputtgingen". "Wir hatten schon Angst und waren bedrückt, weil man halt nicht konnte wie man wollte. Ernährt haben wir uns von Kartoffeln."

An Unternehmungen sei nicht zu denken gewesen, "abends sind wir halt zusammengesessen". Dabei habe sie in den letzten Kriegstagen von Gräueltaten der Nazis erfahren, etwa wie NSDAP-Kreisleiter Richard Drauz den Sontheimer Ortsgruppenleiter Karl Taubenberger erschießen ließ, weil er nicht verhindert hatte, dass eine Panzersperre gegen die vorrückende US-Army abgebaut wird.

Alma Schmidt (93) wohnte mit der Familie in der Südstadt unweit der Ludendorff-Kaserne. Unvergesslich: Eines Tages hätten sie "einen Hochsitz aufgebaut, von dem sie auf Deserteure geschossen haben". Und: Der Vater hatte im Garten unter einem Mirabellenbaum einen Bunker ausgehoben, mit zwei Betten. "Jeden Tag kamen Flieger mit Bomben oder Scharfschützen, die haben wir Ariel genannt." Schon als 14-Jährige habe sie als Älteste auf ihre fünf Geschwister aufpassen müssen, habe für sie gekocht, die Wäsche gemacht, weil die Mutter täglich auf der Suche nach Baumaterial gewesen sei: für den Vater, der ein Plattenlegergeschäft betrieb.

"Als dann die Amis kamen, hatten wir große Angst, was werden wird, aber auch, weil wir versuchten, aus Zugwaggons an der Bottwartalbahn, dem Entenmörder, Sachen zu klauen". "Zum Glück hatten wir auch einen großen Garten mit Hühnern, Enten, Hasen und Bienen. Damit konnten wir leben und tauschen."

Anna Lehnert (100), die aus Böhmen stammt, hat ihr Schicksal sogar zu Papier gebracht. Die Grausamkeiten zum Kriegsende spotteten jedoch jeder Beschreibung. Nur soviel: Weil verwundete Soldaten ihr Haus einnahmen, musste die Familie in der Scheune schlafen. Ein russischer Offizier habe der Mutter angeboten, sie und ihre vier Töchter nach Moskau zu holen. "Mutter lehnte ab!" Dem Umzug ins Elternhaus der Mutter folgte kurz nach Kriegsende der "Rausschmiss durch die Russen, obwohl ich schwanger war".

Bald wohnte man in einer Barracke "mit Wanzen, Schmutz und 45 Leuten", ehe es 1948 plötzlich "umziehen" hieß und der Viehwaggon zum Glück nicht wie befürchtet nach Sibirien führte, sondern ins Erzgebirge. Erst im Zuge des Prager Fühlings von 1968 fand ein Teil der Familie den Weg in den Westen.

Lore Kohler (95) hat das Kriegsende in Stuttgarte-Möhringen erlebt. "Als bei uns 1945 die Franzosen einmarschiert sind, war Ausgehverbot. Und das mitten im schönsten Frühling. Mädle geht bloß nicht auf die Gass". Erst als die Amerikaner kamen, hat es sich entspannt." Und: "Obwohl wir damals viele Opfer zu beklagen hatten, hat man den Lebensmut nicht verloren."

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