Türken stimmen in Weinsberg für inhaftierten Imamoglu – Kritik an Erdogan wächst
Nach der Verhaftung von Ekrem Imamoglu organisiert die Heilbronner Regionalvertretung der CHP eine Solidaritätswahl in Weinsberg. Viele Türken zeigen Unterstützung für den Erdogan-Herausforderer.
Es war Zufall: Sabrina B. (Name von der Redaktion geändert) war just in Istanbul, als der Bürgermeister der Metropole, Ekrem Imamoglu, vergangenen Mittwoch abgesetzt und verhaftet wurde und sich eine Protestveranstaltung anbahnte. Ihr Hotel lag nur 300 Meter vom Rathaus entfernt, so konnte die Nordheimerin aus nächster Nähe beobachten, was nach der Inhaftierung des Mannes, der Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan bei den nächsten Wahlen herausfordern will, vor Ort geschah.
Gleichzeitig begann die Heilbronner Regionalvertretung des Vereins CHP Württemberg, der die Interessen der gleichnamigen größten Oppositionspartei in der Türkei vertritt, umgehend mit der Organisation einer Solidaritätswahl. In Ulm, in Stuttgart und in Weinsberg rief ein Flyer türkische Staatsbürger aus der ganzen Region auf, den Erdogan-Rivalen Imamoglu zum Präsidentschaftskandidaten für die Wahl 2028 zu wählen.

Erdogan-Kritiker aus der Region Heilbronn bleiben lieber anonym
Die Angst der Erdogan-Kritiker ist auch in der Region zu spüren. Sie wollen daher auch meist nicht namentlich genannt werden. Schon ab 10 Uhr morgens beobachtete Sabrina B. letzten Mittwoch nach der Inhaftierung Imamoglus wegen mutmaßlicher Korruption vor dem Rathaus in Istanbul ein großes Polizeiaufgebot. Dann seien immer mehr Leute gekommen, sehr viele bis abends, vor allem junge. Viele Studenten, glaubt die Nordheimerin: „Ich denke, das waren mehrere Tausend.“
Die Protestierenden hätten friedlich ihre Meinung geäußert. Ob Polizisten gewalttätig geworden sind, hat sie nicht mitbekommen. „Ich fand es toll, dass die Leute trotz Demo-Verbot sich nicht haben beirren lassen und auf Straße gegangen sind.“
Ein türkischstämmiger Heilbronner, der auch anonym bleiben möchte, hat anderes gehört: „Ein Geschäftspartner von mir wurde bei der Demonstration schwer verletzt.“ Schon seit der Co-Vorsitzende der kurdenfreundlichen HDP-Partei Selahattin Demirtaş 2016 inhaftiert wurde, befürchtet er das Schlimmste für das Land: „Das war ein intelligenter Mensch. Der hatte das Potenzial, Staatschef zu werden.“
Große Sorge bei Türke aus Heilbronn: Wird das Land der nächste Irak?
Mittlerweile habe Erdogan die Polizei unter Kontrolle, das Militär unter Kontrolle – durch Bedrohungen. Wenn die Richter nicht tun, was der Staatschef will, würden deren Kinder bestraft oder Verwandte, meint er. Er habe ein diktatorisches Regime richtig ausgeweitet.
Nun sehe man aber zum ersten Mal die jugendlichen Studenten auf der Straße. Sie versuchten den Polizisten zu sagen: „Es geht um Demokratie. Lasst uns das Land retten.“ Eine Hoffnung. Sollte der Protest scheitern, prophezeit er, werde die Türkei der nächste Irak.
Der 59-Jährige weiß zudem, dass das Gerichtsurteil für Imamoglu schon Stunden vorher in Deutschland verbreitet wurde: „Ich habe das auch bekommen.“ Nichtsdestotrotz hat der CHP-Verein in Weinsberg die Solidaritätswahl für den Istanbuler Bürgermeister organisiert.
Hunderte bekunden Solidarität mit Ekrem Imamoglu in Weinsberg
„Weltweit haben wir insgesamt circa 15 Millionen Stimmen gesammelt“, berichtet der Vorstand der Heilbronner Vertretung Tuncay Altun. Er freut sich: „Circa 768 Leute waren hier in Weinsberg.“ Man habe zwei Wahlboxen aufgestellt. Eine für CHP-Mitglieder und eine für andere. „Unsere Leute wollen Erdogan nicht mehr“, stellt der Weinsberger fest: „Das Volk will zurück zur Demokratie.“

Nicht nur, weil es wirtschaftlich mit der Türkei bergab geht: „Wir leben in Deutschland in einer Demokratie. Wir wollen diese Werte auch in der Türkei haben“, sagt Altun. In der Türkei gebe es viele Verhaftete, weil sie ihre Meinung frei geäußert hätten. Erdogan wolle den nächsten Präsidentschaftskandidaten der CHP „unbedingt kalt stellen. Das ist ganz eindeutig.“
Mehr wagt er dazu nicht zu sagen: „Das ist für mich auch gefährlich. Jeder von uns hat Angst.“ Staatskritiker würden bei der Einreise an der Grenze verhaftet oder zurückgeschickt. Genau wegen dieser Angst ist die türkische Ehefrau des Heilbronners nicht nach Weinsberg gefahren: „Deine Personalien werden weitergegeben, das ist die Gefahr. Du bist nirgendwo sicher.“ Ihr Ehemann klingt pessimistisch: „Diese Wahlen werden auch nicht helfen.“

Wenngleich auch sie aus Angst vor Repressalien hier anonym bleiben möchte, ist eine Frau aus Möckmühl zur Solidaritätswahl am Sonntag in Weinsberg gewesen. Sie sieht die Lage optimistischer: „Ich bin von hier gebürtig, mir ist aber wichtig, dass im Land meiner Eltern Demokratie weiter läuft.“ Wie es gerade laufe, sei nicht in Ordnung, die Wirtschaft total kaputt: „Wenn wir dort sind, kommen ständig kleine Kinder und betteln um Essen. Die Blicke tun weh.“
Auch AKP-Anhänger aus der Region Heilbronn kritisieren Erdogan
Und Erdogan habe „alle, die ihm in die Quere gekommen sind, wegsperren lassen“, so wie jetzt Imamoglu, weil er in ihm den Rivalen gesehen habe. Sie moniert: „Das ist überhaupt nicht rechtens.“
Doch bei den Wahlen in Weinsberg hat sie sich gefreut: „Ich habe sehr viele bekannte Gesichter gesehen, die eigentlich AKP-Anhänger sind, das hat mir Hoffnung gegeben.“ Auch eine Freundin, deren Mann AKP-Anhänger ist, durfte zu der Solidaritätswahl gehen.
Sie selbst lasse sich von niemandem etwas vorschreiben: „Wieso kann nicht jede Frau so frei sein. Dafür hat uns Atatürk diese Rechte gegeben.“ Der Staatsgründer, der auch im Jahr 1923 die sozialdemokratische CHP gründete, „hat unser Land befreit, auch dass wir so wählen dürfen, wie wir wollen“, sagt die Möckmühlerin kämpferisch. „Ich sehe nicht ein, dass ich mich von irgendwem unterdrücken lasse, auch wenn es mein Mann ist.“ Auch findet sie: Ihre Landsleute, „die hier leben, dürften eigentlich nicht wählen gehen dürfen“.

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