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Weberei, Zigarrenfabrik und Luftkurhaus: Die wechselhafte Geschichte dieses Anwesens in Neulautern

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Der Gebäudekomplex im Lautertal kann eine wechselvolle Geschichte aufweisen. Gäste aus London, Frankfurt und München logierten einst im Hotel mit Kneipp´scher Badeanstalt.

2018 wurde mit dem Umbau des alten Fabrikanwesens in eine Jugendhilfeeinrichtung samt Seminarzentrum und Tagungsstätte begonnen.
2018 wurde mit dem Umbau des alten Fabrikanwesens in eine Jugendhilfeeinrichtung samt Seminarzentrum und Tagungsstätte begonnen.  Foto: Friedrich, Sabine

Wenn alte Gebäude Geschichten erzählen könnten, was würden wir da hören? Vielleicht wie es den Kurgästen aus London, München, Frankfurt oder Heidelberg um die Jahrhundertwende im Lautertal gefallen hat, als sie im Luftkurhaus logierten und kneipten? Oder wie hart die Bedingungen für die Arbeiter in der Steingutfabrik, am Webstuhl oder in der Zigarrenfabrik waren? Der Gebäudekomplex abseits der Ortslage Neulauterns Richtung Spiegelberg hat eine wechselvolle und interessante Geschichte. Nur die Quellenlage ist nicht sehr üppig, wie Karola Schierle, Leiterin des Glas- und Heimatmuseums Wüstenrot, bei ihrer Recherche für die Heilbronner Stimme festgestellt hat.

1850 entstand die Steingutfabrik

"Man fährt jetzt ganz anders vorbei, wenn man die Geschichte kennt", sagt Schierle, nachdem sie doch ein bisschen etwas über die historischen Hintergründe erfahren hat. "Das ist für mich beglückend", meint sie. Den Bogen zu spannen von früher zu heute findet sie ganz wichtig ebenso wie die alten Unterlagen zu hüten.

Als Quelle dienen unter anderem das Wüstenroter Heimatbuch von 1979 und die Festschrift der Feuerwehr Neulautern zum 100. Geburtstag von 1988. Ernst Schlagenhauf, Wüstenroter Bürgermeister von 1974 bis 1990, hat im Heimatbuch den Abschnitt über Neulautern verfasst und wohl für die Festschrift Auszüge davon übernommen. Daraus wird die wechselvolle Geschichte des Gebäudekomplexes deutlich. Erbaut wurde dieser als Steingutfabrik 1850 von einem Fabrikant Bühl aus Waiblingen. Und zwar mit Staatsunterstützung. Dieses Kapitel dauerte nicht lange, denn schon zwei Jahre später wurde Konkurs angemeldet.

An 104 Webstühlen wurde gearbeitet

Die Centralstelle für Handel und Gewerbe kaufte das verpfändete Anwesen, um es dann an den Fabrikanten E. F. Pilger aus Heilbronn weiter zu veräußern. Der richtete eine mechanische Weberei ein, die zuletzt 104 Webstühle hatte, sowie eine Dampffärberei und eine Dampftrockenanstalt. 60 Arbeiter sollen beschäftigt gewesen sein in einem Ort und einer Gegend, die von großer Armut geprägt war, von Not und Nahrungslosigkeit, so Karola Schierle. Neulautern habe unter Staatsaufsicht gestanden.

Die Weberei war etwa 40 Jahre in Betrieb. 1897 wurde in der Neckarzeitung der Ausverkauf annonciert von E. F. Pilgers Nachfolger C. Fischer aus Heilbronn. Er hatte eine "größere Partie baumwollene Handgewebe sehr billig abzugeben".

Die kurze Zeit des Fremdenverkehrs

Es folgte eine kurze schillernde Zeit, die vor der Wende zum 20. Jahrhundert begann. Damals wurde der Fremdenverkehr angekurbelt, Wüstenrot, Neuhütten und Finsterrot durften sich als Luftkurort bezeichnen, und 1898 wurde aus der Weberei in Neulautern das "Luftkurhaus Lauterthal". Es war Hotel und Kneipp'sche Badeanstalt in einem, wie aus einer Anzeige vom 28. Juni 1898 in der Stuttgarter Zeitung hervorgeht, die Direktor Ad. Aug. Groetz unterzeichnete.

Diese Postkarte von 1901 weist auf ein Kapitel der wechselvollen Geschichte des Anwesens hin: Es diente wenige Jahre als Luftkurhaus.
Diese Postkarte von 1901 weist auf ein Kapitel der wechselvollen Geschichte des Anwesens hin: Es diente wenige Jahre als Luftkurhaus.  Foto: Friedrich

Diese entdeckte Schierle im Inseratenbuch von Kaufmann Karl Kircher, das als Dauerleihgabe im Glas- und Heimatmuseum aufbewahrt ist. Beginnend im Jahr 1886, sammelte der Kaufmann Tagesordnungen des Schwurgerichts Heilbronn, Annoncen, Traueranzeigen?. Zusammen mit Pfarrer Richard Lauxmann kurbelte Kircher den Tourismus an, weiß die Museumsleiterin. Im Archiv befinden sich auch die Hausordnung, ein Prospekt vom Luftkurhaus sowie eine Zeichnung von Pfarrer Lauxmann mit den Räumlichkeiten - es gab elf Zimmer und einen Speisesaal.

Industrialisierung sollte vorangetrieben werden

"Das Hotel war nur von kurzer Dauer. Es war vermutlich ein Versuch", meint Schierle. Nach einem Leerstand wechselte das Gebäude wieder den Besitzer. Die Handelskammer Heilbronn wollte die Industrialisierung des Mainhardter Waldes vorantreiben, wie die Weinsberger Zeitung am 23. September 1905 schrieb. Einen Anfang machte die Firma J. L. Reiner aus Heilbronn. Sie richtete im August 1906 in der Anlage eine Filiale ihrer Zigarrenfabrik mit 18 vorwiegend jugendlichen Arbeitern ein, 1907 waren es bereits 50 Beschäftigte. Die Schuhfabrik Frickenhausen gründete eine Dependance im Ort, wo es Arbeit gab "für hiesige und auswärtige Bewohner". Einige Monate 1926 und während des Zweiten Weltkriegs war der Betrieb der Zigarrenfabrik eingestellt, 1951 wurde die Herstellung ganz aufgegeben.

Die Räumlichkeiten erfuhren dann verschiedene Nutzungen, unter anderem als Möbellager der Firma Laauser aus Großbottwar, oder standen leer, ehe 1977 die Familie Hess Besitzer wurde und das Anwesen für religiöse Zwecke nutzen wollte, wie es im Wüstenroter Heimatbuch heißt.

Bei Blutarmut und Bleichsucht zu empfehlen

Eine Anzeige um die Wende zum 20. Jahrhundert warb folgendermaßen für Neulautern. "Höhenkurort in romantischer und reizendster Lage des oberen Lauterthales bei Neulautern in den Löwensteiner Bergen, unmittelbar v. prächtigen Waldungen u. quellenreichen Wiesenplätzen umgeben. Gesunde, kräftige und anregende Bergluft, daher stärkender Aufenthalt bei Blutarmut, Bleichsucht und Nervosität. Kneipp'sche Badeanstalt nach Wörishofenem Muster. Pension von 3 M. an. Bahnstation Sulzbach a. Murr, der Linie Stuttgart - Hall - Nürnberg."

Aus dem Verwaltungsgebäude und dem Stall entstand das Landgut an der Lauter mit der Nutztier-Arche und einem Hofladen.
Aus dem Verwaltungsgebäude und dem Stall entstand das Landgut an der Lauter mit der Nutztier-Arche und einem Hofladen.  Foto: Friedrich, Sabine

Was ist aus der alten Zigarrenfabrik geworden? 2018 kaufte die Consocio gGmbH vom Stocksberg das 65 Ar große Gelände und begann, das denkmalgeschützte Gebäude in eine Jugendhilfeeinrichtung sowie in ein Seminarzentrum und eine Tagungsstätte umzubauen. Das Verwaltungsgebäude samt Stall gehört seit 2016 der Familie Heckel-Löflad, die hier das Landgut an der Lauter betreibt. Lydia Heckel-Löflad weiß von einem prominenten Gast im Fachwerkhaus. Bundespräsident Theodor Heuss besuchte 1953 seine Schulfreundin Anna von Marchtaler im Lautertal. Davon gibt es ein Foto, das im vergriffenen Buch "Wüstenrot in historischen Bildern" abgedruckt ist.

 
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