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Nach IS-Gewalt und Folter: Heilbronner Professor hilft traumatisierten Geflüchteten

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Der Heilbronner Professor Jan Ilhan Kizilhan ist einer der renommiertesten Trauma-Experten Deutschlands. Im Interview spricht er über seine emotionalsten Momente und warum Trauma heilbar ist.


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Jan Ilhan Kizilhan ist als Psychologe und Traumatherapeut tätig. Außerdem ist er wissenschaftlicher Leiter des Masterstudiengangs Transkulturelle Traumapädagogik am DHBW CAS in Heilbronn.

Seit mehr als 25 Jahren beschäftigt er sich mit den psychischen Folgen von Krieg, Flucht und Gewalt. Internationale Bekanntheit erlangte der 58-Jährige 2015, als er das Landesaufnahmeprogramm in Baden-Württemberg leitete – und rund 1100 traumatisierten Jesidinnen nach ihrer Gefangenschaft durch den sogenannten Islamischen Staat die Flucht nach Deutschland ermöglichte.

Für sein Engagement wurde Kizilhan in Berlin mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Im Interview spricht er über die seelischen Narben von Gewalt, die besondere Rolle Heilbronns in seiner Arbeit – und darüber, was es braucht, damit ein Trauma heilen kann.

Heilbronner Professor Jan Ilhan Kizilhan: Ein Trauma kann geheilt werden

 

Erstmal herzlichen Glückwunsch. Was bedeutet diese besondere Auszeichnung für Sie?

Jan Ilhan Kizilhan: Es war ein sehr emotionales Ereignis, für meine Forschung und die humanitäre Arbeit zugleich gewürdigt zu werden – und das in einer Sonderveranstaltung, die sonst unüblich ist. Die Außenministerin (Annalena Baerbock, Anm. der Red.) hat eine Laudatio gehalten, Botschafter aus den USA, Großbritannien, den Niederlanden und Frankreich waren dabei, ebenso viele Bundestagsabgeordnete, Wegbereiter und Kollegen. Manchmal vergisst man, was man alles gemacht hat – und wenn dann so eine Laudatio gehalten wird, erinnert man sich selbst wieder daran. Diese Auszeichnung motiviert mich weiter, daran zu denken, wie wichtig es ist, Forschung zu betreiben, dabei aber die Menschen nicht zu vergessen. Unsere Arbeit sollte immer zum Wohle der Menschen sein.

 

Gibt es einen Moment in Ihrer jahrzehntelangen Arbeit, der Sie besonders geprägt hat oder an den Sie besonders oft denken?

Kizilhan: Ich denke, es war vor allem der Genozid an den Jesiden 2014, den wir über die Fernsehberichterstattung und sozialen Medien hautnah mitverfolgt haben. Kurz danach hat mich die Landesregierung dazu befragt. Ich bin promoviert in Orientalistik, und eine meiner Expertisen ist die Minderheitenreligion im Nahen Osten – neben meiner Tätigkeit als Psychotherapeut und Traumatologe. Daraus ist dann ein Projekt entstanden, und ich hatte die Ehre, aber auch das Glück, als einer der Leiter daran mitzuwirken.

 

Und dann haben Sie mitgeholfen, rund 1.100 Jesidinnen, also Angehörige einer religiösen Minderheit aus dem Irak, im Rahmen eines Sonderprogramms nach Baden-Württemberg zu holen…

Kizilhan: Ja, sie sind inzwischen seit zehn Jahren in Baden-Württemberg. Eine von ihnen damals war die heutige Nobelpreisträgerin Nadia Murad. Sie gehörte zu diesem Sonderkontingent. Bei einem Überfall auf ihr Heimatdorf durch Mitglieder der Miliz Islamischer Staat (IS) am 3. August 2014 verlor Nadia Murad ihre Mutter und sechs Brüder; insgesamt starben 18 ihrer Familienmitglieder durch den IS. Sie selbst wurde gefangen genommen, gefoltert und vergewaltigt. Viele der jungen Frauen, die wir hierhergebracht haben, haben Bücher geschrieben und treten bei Veranstaltungen auf. Das bedeutet, es findet ein Paradigmenwechsel im Umgang mit sexualisierter Gewalt gegen Frauen statt. Sie bekommen eine Stimme und wehren sich dagegen.

Inwiefern hat Sie diese Erfahrung geprägt?

Kizilhan: Sehr, auch in meiner Sicht darauf, wie sicher wir in Deutschland leben. Ich habe hautnah miterlebt, was es bedeutet, wenn selbst kleine Kinder vergewaltigt oder gefoltert werden. Aber gleichzeitig habe ich auch die Hoffnung dieser Menschen gesehen – ihren Überlebenswillen. Das hat mich inspiriert, noch tiefer in die Psychotraumatologie einzusteigen und Modelle zu entwickeln, die wir auch umsetzen.

Heilbronner Professor Jan Ilhan Kizilhan: „Meine Forschung zeigt, dass Trauma heilbar ist.“

 

Wie bleiben Sie optimistisch, obwohl Sie täglich mit so viel Leid konfrontiert sind?

Kizilhan: Ich bin immer wieder beeindruckt von ihrer unglaublichen Resilienz und Kraft, weil sie kämpfen wollen. Wir müssen ihnen nur die Möglichkeit geben, in einem Umfeld zu überleben, das ihnen wieder Hoffnung und Zukunftsperspektiven bietet. Meine Forschung zeigt, dass Trauma heilbar ist. Aber das bedeutet nicht, dass mit dem letzten Schuss eines Krieges auch das Trauma endet – es wirkt weiter. Es ist unsichtbar, manchmal in unseren Erinnerungen, in unserem Körper, manchmal sogar übertragen auf die Familie oder die Gesellschaft. Deshalb müssen wir den Menschen die Möglichkeit geben, gesund zu werden – durch wirtschaftliche Sicherheit, damit sie nicht in Armut leben, nicht hungern. Sie brauchen Schutz, ein Leben ohne Angst vor Angriffen und Bomben.

Sie haben den Masterstudiengang Transkulturelle Traumapädagogik am DHBW Center for Advanced Studies (CAS) in Heilbronn ins Leben gerufen. Wie sind die Entwicklungen?

Kizilhan: Die Studierenden sind hochmotiviert, weil sie sehen, dass sie das, was sie in Heilbronn oder Stuttgart im Masterstudiengang Traumapädagogik lernen, direkt anwenden können – bei Menschen, die geflüchtet sind und Kriegserfahrungen gemacht haben. Das heißt, sie können ihnen wirklich helfen. Der größte Erfolg eines Professors ist immer, wenn seine Studierenden irgendwann zu seinen Kollegen werden, die die Arbeit weiterführen – und sie vielleicht sogar noch besser machen als der Professor selbst (lacht).

Gibt es Verbesserungen, die Sie in der Flüchtlingshilfe wahrnehmen?

Kizilhan: Wir haben in den letzten Jahren viele schwer traumatisierte Geflüchtete aus dem Irak, Afghanistan und Iran aufgenommen. In Afghanistan kennen wir die Situation der Frauen, die dort nicht einmal als Menschen anerkannt werden und nur noch auf Frieden hoffen. Den Bürgerkrieg, der bis heute andauert, haben sie hautnah erlebt. Und dann kommen diese Menschen nach Deutschland, wo sie viele hervorragende und motivierte Kolleginnen und Kollegen sowie Einrichtungen wie Traumazentren finden, die versuchen, ihnen zu helfen. Leider sind diese Einrichtungen oft auf Spenden angewiesen, was dazu führt, dass sie nicht die nötige Förderung erhalten.

Was verstehen Sie unter einer gesunden Integration – gerade mit Blick auf geflüchtete Menschen, die schwer traumatisiert sind?

Kizilhan: Ich glaube, zu einer gesunden Integration gehört vor allem Gesundheit. Wenn man gesund ist, kann man sich auch integrieren, die Sprache lernen und ein Teil der Gesellschaft werden. Ich spreche hier nicht über das große Thema Migration im Allgemeinen, sondern speziell über die schwer traumatisierten Menschen, die es verdienen, behandelt zu werden.

Welche Verantwortung sehen Sie bei der Politik im Umgang mit traumatisierten Geflüchteten?

Kizilhan: Es ist wichtig, dass wir mehr Außenpolitik betreiben, vor allem in den Ländern, in denen Kriege, Terror und islamistischer Extremismus herrschen. Diese Organisationen verursachen unvorstellbares Leid und führen dazu, dass Menschen gefoltert oder traumatisiert werden. Außenpolitik darf nicht nur eine Interessenpolitik sein – sie muss auch Menschenrechtsarbeit umfassen, die gezielt auf die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen in diesen Ländern abzielt. Wenn wir unsere Demokratie in Europa schützen wollen, müssen wir damit beginnen, in Ländern wie Iran, Syrien, Afghanistan und Ägypten Druck auszuüben. Nur so können wir den Menschen langfristig helfen – auch jenen, die heute traumatisiert bei uns ankommen.

Heilbronner Professor Jan Ilhan Kizilhan: „Trauma endet nicht mit dem letzten Schuss eines Krieges“

 

Sie haben schon sehr viel erreicht – was sind Ihre langfristigen Ziele und Visionen für die zukünftige Arbeit in diesem Bereich?

Kizilhan: Das nächste Ziel ist Syrien. Dort ist es etwas ruhiger geworden, aber wir sind uns nicht sicher, wie sich die neue Regierung in Damaskus entwickelt – ob sie wirklich demokratisch wird oder doch in Richtung eines islamischen Staats geht. Der Bürgerkrieg hat viele Spuren hinterlassen. Wir bereiten uns gerade darauf vor, dort – ähnlich wie im Nordirak – zu helfen: Teams aufzubauen, Menschen auszubilden, vielleicht sogar ein Fortbildungszentrum an einer Universität zu eröffnen. Parallel arbeiten wir auch zur Ukraine, etwa mit dem Internationalen Gerichtshof und französischen Universitäten. Es geht darum, Frauen, die sexualisierte Gewalt durch russische Soldaten erlebt haben, so zu stabilisieren, dass sie aussagen können, ohne zusammenzubrechen. Und wir bilden Fachkräfte aus, wie sie solche Frauen betreuen.

Und in Bezug auf Ihre Forschung?

Kizilhan: Ich will verstärkt zum Thema transgenerationale Traumata forschen – also wie Traumata über Generationen weitergegeben werden, durch Kultur, Psyche, aber auch durch Epigenetik. Wenn wir das besser verstehen, können wir auch aktuelle gesellschaftliche Ängste und politische Rückschritte besser einordnen – etwa im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg und seinen Folgen für nachfolgende Generationen.

Welche Herausforderungen für die Zukunft sehen Sie?

Kizilhan: Die Bürokratie muss verbessert werden, damit wir ausreichend Fachkräfte zur Verfügung haben. Leider müssen viele Ärzte, die hervorragend aus Syrien oder anderen Ländern kommen, zwei Jahre auf ihre Zulassung warten. Ich hoffe, dass die neue Regierung, die bald in Kraft tritt, auch im Gesundheitsministerium die Bürokratie entzerren kann. Ein weiteres Problem ist, dass psychische Erkrankungen insgesamt zunehmen, vor allem aufgrund politischer und globaler Krisen. In Deutschland und weltweit verbreiten autokratische Regimes Ängste und Unsicherheit in der Bevölkerung, und durch soziale Medien sind viele Kinder und Jugendliche mittlerweile so überlastet, dass sie Schlafstörungen und Ängste entwickeln. Diese neuen Herausforderungen erfordern breite politische Unterstützung, damit wir präventiv handeln und eine gesunde Gesellschaft aufbauen können – sowohl für Migranten als auch für Nicht-Migranten. Denn letztlich braucht jede Gesellschaft gesunde Menschen.

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