*Kursive BegriffeDas Interview wurde auf Englisch geführt. Die kursiven Begriffe hat Erick Kerre auf Deutsch verwendet.
Elektro-Azubi und Rugbyspieler Erick Mutaki Kerre: „Ich hatte ein One-Way-Ticket für Deutschland“
Der Kenianer Erick Mutaki Kerre hat den Sprung von Kenia nach Deutschland geschafft. Einfach war der Weg für den angehenden Elektriker und Neckarsulmer Rugbyspieler nicht.

Erick Mutaki Kerre hat den Sprung von Kenia nach Deutschland geschafft. Der 31-Jährige absolviert in Schwaigern eine Ausbildung zum Elektriker und arbeitet als Jugendtrainer bei der Sport-Union Neckarsulm. Im Interview spricht der Modellathlet darüber, wie ihm der Rugbysport den Karriereweg geebnet hat.
Herr Kerre, wenn Sie sich zurückerinnern, was hat Sie in Deutschland überrascht?Erick Mutaki Kerre: Es war eine komplett neue Welt (lacht). Ich habe die erste Nacht im Jugendwohnheim der Caritas in der Innsbrucker Straße in Heilbronn verbracht. Am ersten Morgen bin ich raus und dachte, ich könnte ein paar Leute kennenlernen. In Kenia geht das. Da sitzen immer Leute zusammen, reden, diskutieren. Hier waren aber alle beschäftigt, alle in Eile. Nach einer Woche kannte ich niemanden, in Kenia hätte ich schon in der Zeit zwei, drei Freunde gefunden. Da wurde mir klar, das ist hier eine komplett andere Welt.
Sind Sie auf Vorurteile gestoßen?Kerre: Naja, am Anfang habe ich manchmal probiert, Leute nach dem Weg zu fragen. Bis ich das für mich schwierige Wort Entschuldigung* ausgesprochen hatte, waren die schon lange weitergelaufen (lacht). Abgesehen davon waren immer alle sehr freundlich zu mir.
Hegten Sie schon länger den Plan, nach Deutschland zu kommen?Kerre: Nein, überhaupt nicht. Ich hätte in meiner High School sogar Deutsch lernen können, habe stattdessen aber Musik gewählt. Im Jahr 2019 habe ich Konstantin Müller-Rettstatt kennengelernt, der über ein Austauschprogramm an meiner Universität in Nairobi studiert hat. Er wirkte als Weißer ein bisschen verloren, da habe ich ihn an die Hand genommen. Wir haben viel zusammen unternommen, heute ist er einer meiner besten Freunde.
Und er hatte in Neckarsulm Rugby gespielt.Kerre: Richtig. Wegen der Pandemie musste er früher nach Deutschland zurück, aber wir blieben zumindest lose in Kontakt. Zwei Jahre später schrieb er mir, ob ich Lust hätte, nach Deutschland zu kommen. Ich könnte einen Freiwilligendienst absolvieren, gleichzeitig für Neckarsulm auf einem hohen Niveau Rugby spielen, die Sprache lernen und danach vielleicht eine Ausbildung beginnen.
Sie haben sofort „Ja!“ gerufen?Kerre: Ich habe erst einmal gegoogelt, was eine Ausbildung ist (lacht). Ich habe mich schlaugemacht und fand zunehmend Gefallen an der Idee.
Trotzdem ist es ja kein einfacher Schritt, Familie und Freunde zurückzulassen.Kerre: Absolut. Ich habe aber vor allem die Chancen gesehen und die Sorgen eher ausgeblendet. Die Möglichkeit, meine Ziele im Leben vielleicht sehr viel schneller zu erreichen, als es in Kenia möglich wäre. Weiterhin Rugby spielen zu können, war mir auch sehr wichtig.
Warum? Karrierechancen bietet der Sport in Deutschland nicht. Kerre: Rugby ist eine weltweite Gemeinschaft. Egal, wo in der Welt du bist, du findest dort immer Anschluss. Ich war sehr neugierig darauf, wie der Sport in Deutschland funktioniert. Ich hatte sogar mal in einem meiner 18 Länderspiele für Kenia gegen Deutschland gespielt.
Wie sind Sie eigentlich zum Rugby gekommen?Kerre: Das war verrückt. Ich habe immer Fußball gespielt. Die Rugby-Typen an meiner High School, der Friends School Kamusinga, fand ich beängstigend. Eines Tages kam der neue Rugbytrainer in unsere Klasse, sah mich und sagte: „Du kommst morgen Abend zum Training!“ Das war an einem Dienstag. Am folgenden Samstag habe ich mein erstes Spiel bestritten.
Das dürfte eine bittere Erfahrung gewesen sein.Kerre: Es war krass. Die gegnerische Schulmannschaft hat total aggressiv gespielt und schnell gemerkt, dass ich der große Typ bin, der überhaupt nichts kann. Die haben mich über den Haufen gerannt, ich bin durch die Gegend geflogen. Das Kuriose war nur, ich habe trotzdem gepunktet. Hatte ich mal den Ball, bin ich einfach losgerannt, weil ich so eine Angst vor denen hatte. Wir haben das Spiel sogar gewonnen.
Ab da waren Sie dem Ruby verfallen?Kerre: Total. Ab da habe ich Rugby geliebt und liebe es immer noch.
Die Liebe zum Rugby allein ebnete aber noch lange nicht den Weg nach Deutschland.Kerre: Nein, es war extrem kompliziert. Ein Deutscher braucht nur seinen Reisepass zu schnappen und fliegt nach Kenia. Ich brauchte acht Monate, um mein Visum für Deutschland zu bekommen. Der Aufwand und die Kosten sind so hoch, das nimmt kaum jemand auf sich.
Nicht zu vergessen der Druck.Kerre: Der ist enorm. Ich hatte ein One-Way-Ticket für Deutschland. Mir blieb ein Jahr Zeit, um alle Voraussetzungen für einen Ausbildungsplatz zu erfüllen. Das Stressigste dabei war natürlich, die Sprache zu lernen. Ich habe bei null angefangen und innerhalb von einem Jahr das Sprachniveau B1 erreicht. Mein Vorstellungsgespräch bei Elektro Schmid in Schwaigern habe ich bereits auf Deutsch geführt.
Dabei wollten Sie zunächst eine Ausbildung zum Kindergartenerzieher machen, oder?Kerre: Ja, ich habe schon in Kenia immer mit Kindern gearbeitet und in Lauffen ein erfolgreiches Praktikum absolviert. Die Ergebnisse meines Deutschkurses waren aber nicht rechtzeitig da, um die Ausbildung zu beginnen.
Warum dann Elektriker? Hatten Sie in Kenia bereits in einem ähnlichen Bereich gearbeitet?Kerre: Nein. Der praktische Teil war komplett neu für mich. In Kenia habe ich Physik studiert. Daher hatte ich durchaus theoretisches Wissen und habe in der Berufsschule beispielsweise gleich erkannt, was ein Drehstromdreieck ist.
Wie wurden Sie im Betrieb aufgenommen?Kerre: Sehr freundlich. Drei Monate lang habe ich mich immer gefragt, wer dieser lustige, Schwäbisch sprechende Mann ist, der uns auf den Baustellen besucht. Wie sich herausstellte, war es unser Chef Michael Schmid. Er ist der erste Boss in meinem Leben, zu dem ich einfach hingehen und etwas fragen kann. In Kenia gehst du dem Boss eher aus dem Weg, da geht es viel hierarchischer zu.
Bereitet Ihnen der Aufstieg der AfD in Deutschland Sorgen?Kerre: Ich bin kein sehr politischer Mensch. Seit ich in Deutschland bin, liegt mein Fokus auf meinem beruflichen Fortkommen. Ich denke, dass ich Deutschland in Summe mehr gebe, als ich nehme. Müsste ich zurück nach Kenia, würde Deutschland einen fleißigen Menschen verlieren, der sich zudem sozial engagiert. Immigration ist ein komplexes Thema. Es gibt leider auch Menschen, die hierherkommen und sich danebenbenehmen. Es gibt ein Sprichwort in Kenia, das besagt, dass es überall, an jedem Ort, immer mindestens einen bösen Typen gibt.
Wie sieht Ihr Plan für die Zukunft aus?Kerre: Arbeiten (lacht). Meine Ausbildung erfolgreich beenden und hoffentlich übernommen werden. Ich würde gerne in Deutschland bleiben, eine Familie gründen und den Rugbysport nach vorne bringen.
Zur Person
Erick Mutaki Kerre stammt aus Sosio, einem kleinen Dorf im Westen Kenias. Der 31-Jährige gehört dem Stamm der Bukusu an, einem der 17 Unterstämme der Luhya. „Alle haben ihren eigenen Dialekt“, verrät Kerre. Den spricht er ebenso wie Suaheli, Englisch und Deutsch (inzwischen auf A2-Niveau). Nächste Woche besucht er zum zweiten Mal seit seiner Ankunft in Deutschland seinen Bruder, seine vier Schwestern und seine Eltern in seinem Heimatdorf: „Das wird sehr schön.“