„Der Fußballplatz spiegelt unsere Gesellschaft“
Schiedsrichter Fabio Gentile aus Bretzfeld begegnet Aggressionen mutig, höflich und humorvoll.

Höflichkeit gilt als Tugend. Wer als zuvorkommend und aufmerksam wahrgenommen wird, ist höflich – so wie Fabio Gentile. Der Bretzfelder italienischer Abstammung hat als Profi-Podcaster seinen Nachnamen, deutsch „höflich“, zum Programm erklärt. Der 33-Jährige steht auch regelmäßig als Fußball-Schiedsrichter auf dem Rasen.
Bleiben Sie höflich, wenn Sie beleidigt werden?
Fabio Gentile: Ich versuche, mit den Spielern auf Augenhöhe zu kommunizieren. Aber es braucht Mut, Spieler höflich in die Schranken zu weisen. Ich will auch nicht runter von der Schiene Humor. Bestenfalls diskutieren die Leute mit mir und gehen mit einem Lächeln wieder weg.
Sind Sie mal auf dem Platz angegriffen worden?
Gentile: Verbal jedes Wochenende – von Zuschauern. Mit einem Spieler kann ich reden, ihm zeigen: Ich bin ein Mensch wie du. Aber ich habe keinen Zugriff auf einen Zuschauer. Für den bin ich immer der Unnahbare, der Arrogante, der im Mittelpunkt stehen will, weil er mich nicht kennt.
Warum geht es beim Fußball oft so aggressiv zu?
Gentile: Der Fußballplatz spiegelt unsere aktuelle Gesellschaft. Ich merke, dass der Mensch gegen Jahresende stressempfindlicher wird. Es ist statistisch belegt, dass dann mehr Gewalttaten auf dem Platz geschehen als im Sommer. Auch Spiele unter der Woche sind schwieriger als am Wochenende. Wenn die Leute direkt von der Arbeit kommen, nicht runtergekommen sind, vielleicht schlecht gegessen haben.
Warum, glauben Sie, sind Sie noch nie körperlich angegriffen worden?
Gentile: Schwierige Frage. Natürlich hat es mit Körpersprache zu tun. Die Zuschauer spüren, wenn man sich verunsichern lässt. Es ist ganz wichtig, deinen einmal eingeschlagenen Weg zu gehen in den 90 Minuten. Dann bist du transparent, der Zuschauer versteht: Okay, das ist sein Ziel. Dann traut er sich relativ wenig. Aber wir sind nie davor gefeit, dass es nicht passiert.
Kennen Sie ein Beispiel?
Gentile: Ja, ein Schiedsrichterkollege von mir, eigentlich eine krasse Persönlichkeit, wurde körperlich angegangen. Aus dem Nichts heraus. Es kommt also immer drauf an: Wer steht da draußen?
Würden Sie Alkohol im Stadion verbieten?
Gentile: Wenn ich dafür zuständig wäre, das zu bestimmen, dann würde ich sagen: Alkohol weg! Ob es das Problem löst, weiß ich allerdings nicht. Es gibt auch Menschen, die zu Hause trinken und dann betrunken auf den Sportplatz kommen. Und die einen können mit Alkohol umgehen, die anderen nicht. In der Gruppe fühlen sie sich zudem stark, so wie diese Internet-Rambos.
Sehen Sie die Vereine in der Verantwortung?
Gentile: Ja. Die müssten mehr Ordner stellen. Alkohol enthemmt. Und Gegenstände aufs Spielfeld werfen, das geht gar nicht. Das kann tödlich enden. Da könnte man Netze spannen. Vor ein paar Jahren hat mal der Schiedsrichter-Kollege Martin Petersen beim DFB-Pokalspiel ein Feuerzeug gegen den Kopf bekommen.
Welche Handhabe haben Sie da als Schiri?
Gentile: Wenig. Melden dürfen wir an das Sportgericht alles, eingreifen aber erst, wenn etwas vorfällt, etwa eine rassistische Beleidigung. Wir dürfen das Spiel stoppen. Wenn das nicht hilft, dürfen wir das Spiel auch abbrechen.
Dafür gibt’s keine Regel?
Gentile: Nein. Aber das passiert permanent. Ich laufe auf und werde schon beleidigt. Als Schiedsrichter bist du für viele Zuschauer das Ventil.
Warum machen Sie dann den Schiri-Job?
Gentile: Mein Papa war schon Schiedsrichter. Auch mein Bruder, der war aber eher Fußballer. Ich habe mit 14 Jahren meinen Schiedsrichterschein gemacht. Das Hobby ist meiner Meinung nach die beste Persönlichkeitsschule.
Wollten Sie nicht lieber Fußball spielen?
Gentile: Erst ja. Aber 2002, bei der Fußball-WM in Südkorea, da hat Pierluigi Collina das Finale Deutschland-Brasilien gepfiffen. Der hat mich total begeistert. Nach der B-Jugend bin ich dann in die Schiedsrichterschiene rein. Das Schiedsrichterkonzept ist kompliziert. Wir können auch auf- oder absteigen.
Sie haben es bis in die Verbandsliga geschafft.
Gentile: Genau. Doch letztes Jahr bin ich wieder abgestiegen. Auch in der Landesliga hat man Assistenten dabei, man geht zu dritt zum Spiel.
Wollen Sie mal Bundesliga pfeifen?
Gentile: Ich bin zu alt. Aber nächstes Jahr unterstütze ich einen jüngeren Schiedsrichter in der Verbandsliga als Linienrichter.
Zum Fußball sind Sie durch die Familie gekommen. Auch zu Ihrem Nachnamen, natürlich. Und zu Höflichkeit und Achtsamkeit?
Gentile: Erziehung! Meinen Eltern war immer wichtig: „Egal, was ihr macht: Seid höflich, tanzt nicht aus der Reihe, stellt euch bei einer Schlange hinten an, seid respektvoll.“
Es soll Väter geben, die sich Respekt erprügeln.
Gentile: (lacht) Bei der südländischen Erziehung gibt es auch mal was anderes als nur Worte. Aber ich wurde nie geschlagen. Da war auch immer eine respektvolle, freundschaftliche Ebene zwischen meinen Eltern. Die Erziehung hat mich am meisten geprägt, aber auch der Freundeskreis. Und Fairness war mir immer wichtig.
Ihre Eltern waren also Vorbild.
Gentile: Ja. Sie sind aus Apulien, Bari, als Gastarbeiter gekommen. Nach Öhringen, ihre Eltern blieben in Italien. Mein Vater hatte drei Jobs, um uns durchzubekommen und die Wohnung abzubezahlen. Sie haben Wert darauf gelegt, dass man Deutsch spricht. Und sie haben mir und meinem großen Bruder immer gesagt: Benehmt euch! Legt euch nicht mit der Polizei an!
Sie schwäbeln. Können Sie überhaupt Italienisch?
Gentile: (lacht) Zu 80 Prozent.
Hat Ihnen die Höflichkeit im Leben geholfen?
Gentile: Ja. Schule war zum Beispiel nicht so mein Ding, aber ich war trotzdem beliebt. Ich glaube, dass ich als sympathisch wahrgenommen werde. Es gibt wenige Leute, die wirklich wissen wollen, wie es dem Gegenüber geht. Meine Empathie hat mich weitergebracht.
Auch jetzt sind Sie angenehm auf unser Gespräch fokussiert, obwohl Sie in drei Tagen heiraten.
Gentile: Ja, das ist immer mein Wunsch gewesen. Wir sind schon seit zehn Jahren zusammen. Meine Freundin ist meine größte Förderin.
Inwiefern?
Gentile: Also, sie ist sehr hart in der Kritik, immer sehr ehrlich. Manchmal tut’s auch weh, aber sie findet toll, was ich mache. Sie war auch die Initialzündung damals dafür, dass ich mein Abitur nachhole. Und sie hat mich auch ermutigt, das mit der Selbstständigkeit (als Podcaster) auszuprobieren.
Und Ihre Eltern?
Gentile: Mein Vater hat ein Jahr lang nicht mit mir gesprochen. Er will Sicherheit. Er dachte: „Jetzt spinnt der Kleine und denkt, er kann sich selbstständig machen mit so einem Quatsch.“
Wie sind Sie damit umgegangen?
Gentile: Natürlich hat mich das verletzt. Aber ich wusste, ich beweise es ihm noch, und er tut das aus Liebe.
Sie lachen heute offensichtlich darüber.
Gentile: Ja. Lustiges, was meine Eltern gesagt haben, verarbeite ich in meinen Bühnentexten als Stand-Up-Comedian. Genauso, wie ich aus eigentlich negativen Dingen, die auf dem Fußballplatz passieren, lustige Geschichten mache. Mit Humor kann man so viel verarbeiten. Man läuft viel besser durchs Leben, wenn man lacht, anstatt zu sagen: „Ich bin doch so arm dran.“