Heilbronner Kinderärzte über Autismus: Warum die Diagnose so schwierig ist
Autismus-Spektrum-Störungen werden laut Medizinern aus der Region Heilbronn häufig festgestellt. Familien warten mindestens ein halbes Jahr auf einen Termin.
In Serien und Filmen sind sie beliebte Figuren. In der Realität erreichen sie oft Großes: Autisten. Greta Thunberg, Elon Musk – jeder kennt ein Beispiel, jeder hat eine Vorstellung davon, was Autismus ist. Viele Laien fühlen sich sogar imstande diese Diagnose zu stellen. Das merken vor allem auch Kinderärzte. „Eltern fragen häufiger danach als früher“, sagt der Heilbronner Kinderarzt Dr. Hans Stechele. „Davon abgesehen, steigen die Diagnosen der Autismus-Spektrum-Störung aber tatsächlich.“
Heilbronner SLK-Ärztin: Erweiterte Diagnosekriterien führen zu mehr Autismus-Fällen
Woran liegt das? Ein Stück weit sei es eine „Modediagnose“, sagt Stechele. Damit meint er nicht, dass die Diagnose vorschnell oder falsch gestellt wird. Vielmehr seien die Kriterien erweitert worden, wodurch per se mehr Menschen darunterfallen.
Dr. Elisabeth Feuerstein, kommissarische Leiterin des Sozialpädiatrischen Zentrums (SPZ) an der SLK-Kinderklinik am Gesundbrunnen in Heilbronn, erläutert: „Bisher wurde in frühkindlichen Autismus, hochfunktionalen Autismus und atypischen Autismus eingeteilt.“ Da man jedoch festgestellt habe, dass die Übergänge sehr fließend seien, sei man dazu übergegangen, alle Arten unter dem Begriff Autismus-Spektrum-Störung zusammenzufassen.
Autismus bei Kindern: Es gibt keine eindeutigen Tests wie bei Infektionskrankheiten
Auch sie bestätigt, dass immer mehr Kinder diese Diagnose erhalten. Und, dass sie immer früher im Leben gestellt werde. Das bedeute aber nicht automatisch, dass die Zahl an autistischen Kindern oder Personen gestiegen sei. Zum einen gebe es keine eindeutigen Marker und Tests wie bei Infektionskrankheiten, die die Störung klassifizieren und damit die Fälle zählbar und vergleichbar machten. Zum anderen hätten Ärzte und die Gesellschaft dieses Thema früher nicht so wahrgenommen wie heute. „Es gab aber immer schon Menschen, die ein bisschen besonders oder auch auffällig waren.“

Die Diagnose zu stellen, ist sehr komplex. Das macht nicht der Kinderarzt. „Das können nur Kinder- und Jugendpsychiater oder Institutionen wie zum Beispiel sozialpädiatrische Zentren“, erklärt Hans Stechele. Von diesen Spezialisten gebe es aber zu wenig, weshalb betroffene Familien oft lange Wartezeiten hinnehmen müssten. „Wir haben derzeit Wartezeiten von sechs bis neun Monaten. Wir hoffen, dass wir das bald reduzieren können“, sagt Elisabeth Feuerstein.
Denn diese lange Zeit bis zur Diagnose ist für die Familien „sehr problematisch und sehr belastend“, erklärt sie. „Kinder machen in kurzer Zeit viele Entwicklungsschritte.“ Ohne fachliche Unterstützung werde die Diskrepanz zu einer altersentsprechenden Entwicklung immer größer. Auch seien die Familien oft extrem belastet durch Ernährungs- und Schlafstörungen die teilweise mit der Autismus-Spektrum-Störung einhergingen.
Diagnose Autismus: Betroffene können oft ohne Eingliederungshilfe nicht in den Kindergarten
„Welche Fördermaßnahmen das einzelne Kind braucht, kann man aber erst genau sagen, wenn man weiß, was es hat“, sagt Feuerstein. Die betroffenen Kinder dürften zum Beispiel oft nicht in den Kindergarten ohne Eingliederungshilfe. „Das Fachpersonal im Kindergarten kann das alleine nicht stemmen.“ Die frühe Diagnose sei daher für eine altersgerechte Entwicklung und die Teilhabe an der Gesellschaft wichtig. Denn: „Autismus ist eine lebenslange Diagnose.“
Bei der Unterstützung von Familien mit so genannten neurodiversen Kindern, „ist schon noch viel Luft nach oben“, sagt Feuerstein. Die Eltern seien oft verzweifelt. „Lange Wartezeiten sind für sie fast nicht auszuhalten.“ Denn Kinder mit autistischen Verhaltensweisen reagieren nicht wie andere Kinder.
Keine Trotzanfälle, sondern pure Verzweiflung
Sie nehmen die Welt anders wahr, können sich oft sprachlich nicht ausdrücken, haben Probleme mit Blickkontakt und mit der Kontaktaufnahme mit Gleichaltrigen. Mimik und Gestik sind für sie schwierig zu interpretieren. „Das bedeutet ein hohes Konfliktpotenzial“, erklärt die Ärztin. Manche Kinder bekämen zum Beispiel extreme emotionale Zusammenbrüche, auch Meltdowns genannt. „Wenn man als Erwachsener jedoch weiß, dass das keine Trotzanfälle sind, sondern pure Verzweiflung, reagiert man anders.“
Bis die Diagnose jedoch feststeht, vergeht eine lange Zeit, berichtet die Ärztin. Nicht nur wegen der Wartezeiten im Vorfeld, auch die Diagnostik an sich sei umfangreich und schwierig. Oft könne man sie auch nicht sofort gesichert abschließen. „Wir sind da sehr vorsichtig.“ Therapien und Hilfsangebote ließen sich aber natürlich schon vorher in die Wege leiten. Auch hier seien jedoch Wartezeiten und ein Mangel an Therapeuten ein Problem.
Hoher Medienkonsum führt zu Verhaltensauffälligkeiten
„Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung sind nicht per se krank, sie sind anders, neurodivers“, erläutert Elisabeth Feuerstein. Das Bild, das man mittlerweile in Filmen oder Serien gewinnen könne, bilde die Diagnose aber nicht vollständig ab. „Viele sind auch von einer Behinderung betroffen, von Sprachentwicklungsstörung ohne das Vermögen der sprachlichen Äußerung oder einer mehr oder weniger ausgeprägten Intelligenzminderung.“
Wie Autismus entsteht, hängt mit vielen Faktoren zusammen, erklärt die Ärztin. Die Genetik spiele eine Rolle. Man habe festgestellt, dass die Störung in manchen Familien häufiger vorkomme als in anderen. „Es gibt aber auch nicht das Autismus-Gen, das man mit einem Bluttest identifizieren könnte.“
Autistische Verhaltensweisen entstehen aber auch durch zu viel Medienkonsum von Kind und Eltern, ist sich Hans Stechele sicher. Er beobachtet im Praxisalltag: „Wenn durch Medien wenig Interaktion zum Beispiel mit den Eltern stattfindet, entwickeln Kinder Defizite.“ Dass zu viel Medienkonsum allgemein Verhaltensauffälligkeiten auslöse, sei unbestritten, berichtet Feuerstein. Eine Autismus-Spektrum-Störungen löse hoher Medienkonsum aber nicht aus.