Peter Stamm, geboren 1963 in Scherzingen, Kanton Thurgau, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie, lebte in Paris, New York und Skandinavien und ist seit 1990 vor allem in Winterthur zu Hause. Stamm verfasst Prosawerke, Hörspiele und Theaterstücke, sein Roman „Agnes“ wurde 2016 verfilmt, seine Texte sind in rund 40 Sprachen übersetzt.
Von den Kippmomenten im Leben und der Leichtigkeit beim Schreiben
Peter Stamm liest im Parkhotel Heilbronn, gewährt Einblicke in seinen neuen Erzählband „Auf ganz dünnem Eis“ und lobt die Leichtigkeit des Spiels eines Roger Federer.

Peter Stamm mag die kleine Form. So wie er die Kammermusik der Sinfonie vorzieht und die Zeichnung dem Gemälde, schätzt er die dichte Erzählung. Dabei schreibt der Schweizer auch Romane. Die aber sind dann vergleichsweise kurz. Das Auswalzen eines Themas auf 500 Seiten und mehr ist seine Sache nicht – Adipositas der Literatur nennt er es. Auf 192 Seiten bringt es sein soeben bei S. Fischer erschienener Erzählband „Auf ganz dünnem Eis“. Neun Geschichten, die in ihrer Präzision mehr auszulösen vermögen als ein Schmöker.
Schöne Aussichten: Literatur aus der Schweiz
Der scheinbar beiläufige, lakonische Erzählton zwischen Alltäglichkeit und Unheimlichkeit machen auch diesen neuen Stamm zu einem Erlebnis. Drei der Geschichten wird er vorlesen am Sonntagvormittag im Panoramasaal im Parkhotel. Und im Gespräch mit Heilbronns Literaturhausleiter Anton Knittel Einblick gewähren in seine Schreibwerkstatt und das Lebensgefühls eines erfolgreichen Schriftstellers, der in sich zu ruhen scheint. Oder auch aus einer gewissen Unruhe des Daseins Material schöpft. Der Vormittag ist auch Auftakt einer neuen Reihe des Literaturhauses mit Sitz im Trappenseeschloss: „Schöne Aussichten: Literatur aus der Schweiz“, im Februar wird sie fortgesetzt.
Dass die Aussicht aus dem letzten Stock im Parkhotel erhaben ist wie jeder Blick aus der Vogelperspektive, steht außer Frage. In der ersten Erzählung, mit der „Auf ganz dünnem Eis“ beginnt, gibt es indes vieles außer einer schönen Aussicht. Es sei denn in der Imagination des Ich-Erzählers, ein Skilehrer, der in einer Skihalle in Nordrhein-Westfalen auf Kunstschnee unterrichtet, wenn er sich, um der Tristesse zu entkommen, vorstellt, wie er früh morgens bei strahlendem Himmel und klirrender Kälte alleine abfährt in den Bergen. Doch wird er gleich einer Gruppe angeschickerter Holländer die Basics des Skisports beibringen. Mit knappen Worten – geblümte Vorhänge, dünn und ausgefranst, auf dem Fenstersims steht ein schmutziger Aschenbecher – umreißt Stamm die Trostlosigkeit des Monteurszimmers, in dem der einsame Erzähler, den es ins Ruhrgebiet verschlagen hat, fristet.
Ein Bus voller Holländer in Skifahrermontur
Peter Stamms Texte provozieren filmische Assoziationen, die bewusst gesetzten Leerstellen lassen Raum für die individuellen Gefühls- und Erfahrungswelten des Lesers. Stamm interessiert sich für die Kippmoment im Leben, für Umbrüche, Sehnsüchte, Parallelwelten. Er erzählt im Grunde eine Geschichte nie zu Ende. Es ist dieses Unfassbare, das Stamms Texte faszinierend macht. Im Fall der Erzählung „Lieke schreibt ...“ kam, sagt Peter Stamm, die Idee nicht von der Figur, sondern der Skihalle in Bottrop, die er sich tatsächlich während einer Lesereise durchs Ruhrgebiet angesehen hatte, als ein Bus voller Holländer in Skifahrermontur bei tristem Wetter vorfuhr. Irgendwann würde er, wusste Stamm, über die Absurdität des Ortes schreiben – im Kontrast zur Schönheit der Berge. Bauen ließ diese Halle übrigens der einstige Skiprofi Marc Girardelli.
Auch die zweite Geschichte, berichtet Stamm, ist aus einem bestimmten Ort heraus entstanden. Einem seelenlosen Geschäft für alles rund ums Baby in einem nicht minder seelenlosen Industriegebiet, „als wir den ersten und einzigen Kinderwagen“ gekauft haben. „Elins Äpfel“ erzählt dann allerdings von zwei ungleichen Frauen, dass die Jahreszeiten in der Stadt keine Gerüche haben und von der Zeitlosigkeit der Kindheit: der Gefangenschaft in der Zeit, die zugleich Geborgenheit bedeutet.
„Die besten Texte entstehen, wenn es am leichtesten ist.“
„Wenn ich schreibe, bin ich sehr konzentriert.“ Doch gibt es Tage, an denen Peter Stamm erst gar nicht anfängt, „da würde ich mehr kaputt machen“. Bei vielen Tätigkeiten wird etwas besser, je mehr man sich anstrengt, beim Schreiben verhält es sich andersrum. „Die besten Texte entstehen, wenn es am leichtesten ist.“ Als würde man Roger Federer beim Tennisspielen zusehen, als sei es das Einfachste der Welt. Texte, an denen er zu lange arbeitet, gibt Peter Stamm auf. Meist.
Aus einem unvollendeten Roman ist immerhin „Wintern“ entstanden, die Erzählung, mit der „Auf ganz dünnem Eis“ endet und die in einer möglichen Zukunft spielt. „Ich bin nicht gläubig“, sagt Peter Stamm, gefragt nach den Verweisen in seinen Texten auf Religion und Metaphysik. Doch versteht er die Fragen, die die Kirche stellt, als wesentlich, wenngleich er mit den Antworten nicht einverstanden ist. Eine gute Haltung für einen Sonntag.

 Stimme.de
Stimme.de