Sex mit Madonna: „Die Welt im Rücken“ im Schauspiel Stuttgart
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Lucia Bihler inszeniert Thomas Melles literarische Auseinandersetzung mit seiner bipolaren Störung als tragikomischen Horrortrip, der einen nicht kalt lässt. Paulina Alpen in der Hauptrolle ist grandios - und bekommt es mit gleich sechs Doppelgängern zu tun.
Zwischen Depression und Manie: Paulina Alpen spielt den bipolaren Autor Thomas Melle.
Foto: Julian Baumann
Schreiben ist für wohl keinen deutschen Gegenwartsautor eine solch existenzielle Angelegenheit wie für Thomas Melle. „Ich muss mir meine Geschichte zurückerobern“, heißt es in Melles autobiografischem Buch „Die Welt im Rücken“, in dem der Schriftsteller, Dramatiker und Übersetzer von seiner bipolaren Störung berichtet. Für diese radikale, hochliterarische Auseinandersetzung mit seinem Leben zwischen Manie und Depression war Melle 2016 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Mit seinem Roman „Haus zur Sonne“, der gewissermaßen als fiktive Fortschreibung gelesen werden kann, steht der 50-Jährige aktuell erneut auf der Shortlist.
Wie sich das anfühlen muss, wenn einem die Krankheit ein Bein stellt – so hat es ein Arzt gegenüber Thomas Melle einmal formuliert –, zeigt am Stuttgarter Schauspiel nun Lucia Bihler in ihrer Inszenierung von „Die Welt im Rücken“. Auf gut zwei Stunden hat Bihler die 350-seitige Vorlage verdichtet zu einer Zumutung im besten Sinne für das Publikum, aber auch für eine grandiose Paulina Alpen in der Hauptrolle.
Bühnenfiguren, die aussehen, als entstammten sie der Addams Family
Exzesse, Abstürze, Scham, Selbstmordversuche: Alpen eignet sich Melles Leidensgeschichte in einem ergreifenden Solo an – das strenggenommen keines ist. Weil die Regie die Bühnenfigur Melle vervielfacht, um von einer monologischen Situation immer wieder in ein situativeres Spiel zu kommen. Er habe keine Sammelstelle namens Ich mehr, gelingen Melles Text und Bihlers Bühnenversion prägnante Bilder für die extremen Zustände des psychisch Kranken.
Zur Regisseurin
Lucia Bihler, geboren 1988 in München, studiert Regie und Choreografie an der Ernst Busch in Berlin. Es folgen Engagements am Burgtheater Wien, Schauspiel Köln, Volkstheater München. Von 2019 bis 2021 ist sie Teil der künstlerischen Leitung der Berliner Volksbühne und Hausregisseurin. Ihre Inszenierung „Die Eingeborenen von Maria Blut“ für die Wiener Burg wird zum Berliner Theatertreffen 2023 eingeladen. Seit 2024 ist Lucia Bihler Dozentin an der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg.
Und so bedrängen sechs Doppelgänger Melle in der geschlossenen psychiatrischen Einrichtung, fliehen vor ihm, als er mit einem Baseballschläger auf sie losgeht, bauen ihn auf, nachdem er eine Überdosis Tabletten genommen hat, weil er einfach „weg sein“ wollte. Wie Mitglieder der Addams Family wirken diese Gestalten mit ihren blassen, augenberingten Gesichtern und den knalligen rot-weißen Kostümen von Victoria Behr. Im Riesen-Fatsuit, dazu überdimensionierte Hände und eine dreiäugige Alien-Maske, irrlichtert Alpen umher während einer manischen Phase ihrer Figur, „Meine Zeit wird kommen“ brüllend und „Schauen wir mal, dann sehen wir schon“.
Was ist real? Was Einbildung? Der Eigen- und Weltwahrnehmung, das wird deutlich, kann jemand, der sich zeitweise für den Messias hält, nicht trauen. Für diesen Einblick in Melles Innere hat Paula Wellmann eine durch und durch rosafarbene Bühne entworfen. Gerne würde der Autor sie einfach hinter dem Vorhang verschwinden lassen, dabei zieht es ihn buchstäblich immer wieder hinein. Das Notausgang-Schild leuchtet nicht für ihn. „Welcome back“ grüßt die nächste manische Phase. Von insgesamt dreien – 1999, 2006, 2010 – schreibt Thomas Melle in „Die Welt im Rücken“.
Eine gewisse Flexibilität in der Perspektive auf den Kranken
Ist er in Hochstimmung, wird ihm alles zum Zeichen. Auf der Clubtoilette will er den leibhaftigen Picasso entdeckt haben, Madonna höchstpersönlich geht mit ihm ins Bett, fast rennt er vor ein Auto. Ein 80er Jahre Synthie-Soundtrack befeuert Rastlosigkeit, Euphorie, Größenwahn des Protagonisten. Bis zum Zusammenbruch. Danach: absolute Erschöpfung, Leere, Suizidgedanken. Wenn die Klarheit zurückkommt, blickt Melle auf den Scherbenhaufen seiner Existenz.
Der Schmerz darüber, dass ein bürgerliches Leben unmöglich ist, dass Medikamente helfen, jedoch aufschwemmen und betäuben, macht betroffen an diesem Abend – der auch für Lacher sorgt. Kein Mitleid, aber eine gewissen Flexibilität in der Perspektive auf den Kranken erbittet Paulina Alpen in ihrem Schlussmonolog. Was Thomas Melle bleibt bei all dem Kontrollverlust, ist die Kontrolle über die Sprache. Schreiben, sagt der Bühnen-Melle, ist ein Zufluchtsort. Wobei man sich bange fragt: wie lange? Ein tragikomischer Horrortrip, der einen nicht kalt lässt.
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