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Deutschlandpremiere im Science Dome
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Science & Theatre: Warum „Die letzte Nacht der Welt“ enttäuscht

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Was wäre, wenn Menschen (fast) nicht mehr schlafen müssten? 2023 hat sich Laurent Gaudé beim Science & Theatre Dramenwettbewerb den ersten Preis gesichert. Nun eröffnete sein Stück in der Inszenierung von Elias Perrig offiziell die aktuelle Ausgabe des Festivals.

Nils Brück ist Gabor in Laurent Gaudés Dystopie um eine ruhelose Menschheit.
Nils Brück ist Gabor in Laurent Gaudés Dystopie um eine ruhelose Menschheit.  Foto: Jochen Klenk

Sogar im nicht unbedingt für eine ausgewogene Work-Life-Balance bekannten Japan machte vor wenigen Tagen Schlagzeilen, dass Premierministerin Sanae Takaichi ein Teammeeting auf drei Uhr morgens anberaumt hatte. Auch andernorts ist immer wieder von Politikern und Managern zu lesen, die offenbar nur wenig Nachtruhe brauchen – und sich damit noch brüsten.

Was das Streben nach Schlafverzicht mit dem Spätkapitalismus zu tun hat, dem ist der US-Kunstkritiker und Essayist Jonathan Crary schon vor mehr als zehn Jahren in seinem Buch „24/7“ auf den Grund gegangen. Kurz gefasst: Wer pennt, produziert nicht, auch fällt er währenddessen als Konsument aus – und gilt in der Logik des Systems als nutzlos.

Wie verführerisch muss es vor diesem Hintergrund klingen, den Menschen zu einer (Arbeits-)Maschine umzubauen, die rund um die Uhr einsetzbar ist. Der französische Autor Laurent Gaudé stellt dieses Gedankenexperiment an und zeigt Konsequenzen auf in seinem Stück „Die letzte Nacht der Welt“.

2023 hat er sich damit den ersten Platz gesichert beim Dramenwettbewerb des Heilbronner Festivals Science & Theatre, das aktuell zum vierten Mal als Kooperation stattfindet zwischen Experimenta und Stadttheater bis einschließlich Sonntag an verschiedenen Orten. Mit dem Preisgeld in Höhe von 10 000 Euro einher ging auch die Deutschlandpremiere des Dramas im Science Dome am Mittwochabend.

Über den Autor Laurent Gaudé

Laurent Gaudé, 1972 in Paris geboren, widmet sich nach dem Studium der Literaturwissenschaft und Theaterwissenschaft an der Sorbonne dem Schreiben von Theaterstücken. Mit seinem Roman „La Mort du roi Tsongor“ gelingt Gaudé 2002 der literarische Durchbruch. Für „Le Soleil des Scorta“ („Das Haus der Scorta“) erhält er 2004 den Prix Goncourt. Nur ein Teil seines Werkes ist bislang auf Deutsch erschienen.

Vielleicht funktioniert der Text besser als kurzes Hörspiel oder Novelle

Das Zeitalter der fragmentierten Nacht verspricht nicht weniger als eine Revolution: Den Alltag auf quasi 24 Stunden ausweiten und die Schlafphase auf ein Minimum reduzieren – die Medizin macht’s möglich. Dank Pille genügt ein 45-minütiger Powernap in Gaudés düsterem Zukunftsentwurf, der in der Inszenierung von Elias Perrig nicht zu überzeugen vermag. Was zuallererst am Text selbst liegt, der womöglich besser funktioniert als gekürztes Hörspiel oder Novelle. Viel zu selten kommen die Figuren ins Spiel, stattdessen wird ausgiebig monologisiert.

Gabor (Nils Brück), der tragische Held dieser Geschichte um Anmaßung und Strafe, blickt erzählend zurück: Einst ein glühender Kämpfer für die gesellschaftliche Transformation, reist er im Auftrag seiner Chefin, der Politikerin Vania Van DeRoot (Lisa Wildmann), ans andere Ende der Welt, um dort die Abschaffung der Nacht zu begleiten. Derweil wird seine Frau Lou (Judith Lilly Raab) daheim bei gewalttätigen Protesten gegen den vermeintlichen Fortschritt verletzt. Im Krankenhaus verschlechtert sich ihr Zustand derart, dass Lou zu sterben droht – bis sie am darauffolgenden Morgen spurlos verschwunden ist.

Was folgt, entwickelt in besten Momenten Krimiqualitäten, wird allerdings zusehends verworren, auch ist die Motivation von Gabor nicht nachvollziehbar, der zum Mörder wird auf seiner Suche nach Lou. Will Gaudé hier die Halluzinationen und den Zusammenbruch eines Wahnsinnigen zeigen, dem der Schlafentzug auf Dauer mehr beschert als trockene Augen und ausfallende Zähne? Ilma Mäkinen, Vertreterin des samischen Volkes (Sophie Marie Scherrieble), scheint Näheres über Lous Verbleib zu wissen. Zur Karikatur gerät ein orakelndes Kind, dem Gabor begegnet kurz vor dem kitschigen Ende dieses Stücks, dem ein simples Gut-Böse-Schema zugrundeliegt.

Die Potenzial des Science Dome wird zu wenig ausgeschöpft

Recht einfallslos nutzt die Regie die Möglichkeiten, die der Science Dome bietet. Muster und Sterne werden an die 360-Grad-Kuppel projiziert, Musikstücke eingespielt, ein paar Drehungen der Sitzplätze sorgen für Szenenwechsel. Vom Premierenpublikum gibt es nach etwa eineinhalb Stunden höflichen Applaus für diesen enttäuschenden Theaterabend.

Nach dem Festival steht die Eigenproduktion noch einige Male auf dem Spielplan des Heilbronner Theaters – wie auch Roman Eichs „Häufig gestellte Fragen zum Fortbestand der Menschheit“, das beim Dramenwettbewerb 2023 den zweiten Preis erhielt und am Donnerstag in der Boxx uraufgeführt wurde.

Weitere Vorstellungen

www.science-theatre-festival.de

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