Mieczyslaw Weinberg, 1919 in Warschau geboren, 1996 in Moskau gestorben, floh vor den Nationalsozialisten in die Sowjetunion und wurde dort Opfer der Kulturpolitik Stalins. Ein Brief seines Fürsprechers Dimitri Schostakowitsch befreite ihn aus der Haft. Seine Oper „Die Passagierin“ über eine Auschwitz-Überlebende, die ihrer KZ-Aufseherin auf einem Ozeandampfer wieder begegnet, aus dem Jahr 1968 wurde 2006 konzertant in Moskau uraufgeführt und 2010 als szenische Oper bei den Bregenzer Festspielen.
Ob das Böse im Menschen normal ist?
Großes, sinnliches Musiktheater: Mieczyslaw Weinbergs Oper „Der Idiot“ triumphiert in der Bilderwelt von Krzysztof Warlikowski unter dem sensationellen Dirigat von Mirga Grazinyte-Tyla.

Er glaubt nicht und wird nie glauben, dass das Böse im Menschen normal ist. Fürst Myschkin, der Protagonist in Fjodor Dostojewskis Roman „Der Idiot“, steht für das Mitgefühl als das „einzige Gesetz des menschlichen Daseins“. Ob Mitgefühl hinter dem jüngsten Deal des Gefangenenaustauschs des Westens mit Putin stand, sei dahingestellt. Dass das Böse in unserer Zeit normal scheint, liegt da schon näher. Ist aber nicht neu.
Nicht immer einfach, aber aufregend wirkt Weinbergs Musik
Mit der Oper „Der Idiot“ von Mieczyslaw Weinberg nach dem 900-Seiten-Roman gelingt den Salzburger Festspielen ein großer Wurf, ohne sich dem Zeitgeist einer politischen Deutung zu verpflichten: sinnliches Musiktheater zu einer außergewöhnlichen Musik, die nicht immer einfach, aber aufregend ist und das feine Premierenpublikum nach dreidreiviertel Stunden mit Pause zu überschwänglichen Reaktionen hinreißt. Völlig zu Recht, ist hier mit Weinbergs 1986/87 komponiertem Werk eine Rarität zu erleben mit tadellosen Solisten in der wirkmächtigen, klugen Bilderwelt von Regisseur Krzysztof Warlikowski. Und unter der sensationellen musikalischen Leitung der gerade einmal 37 Jahre alten litauischen Dirigentin Mirga Grazinyte-Tyla.
Mirga Grazinyte-Tylas minimalistisch anmutendes Dirigat mit maximaler Wirkung
Lange haben sich die Wiener Philharmoniker um sie bemüht, jetzt navigiert Grazinyte-Tyla das Orchester in der Felsenreitschule durch den Klangkosmos des polnisch-russischen Komponisten. Die einstige Assistentin Kurt Masurs, die mit 29 Jahren Chefdirigentin des Birmingham Symphony Orchestra wurde, ist eine profunde Kennerin und Anwältin von Weinbergs Werk. Ihr entschieden ruhiges, fast minimalistisches Dirigat mit maximaler Effizienz lässt Weinbergs „Der Idiot“ triumphieren.
Ewig möchte man der schmalen, aufrechten Frau zusehen, wie sie im Graben steht und auf den Punkt Musiker, Staatsopernchor und große Stimmen wie Bogdan Volkov, Ausrine Stundyte und Vladislav Sulimsky führt. Erst zum vierten Mal überhaupt wird die siebte und letzte Oper Weinbergs inszeniert. In Moskau gab es fünf Jahre nach der Entstehung eine Kurzfassung, 2013 wurde das Werk am Nationaltheater Mannheim vollständig uraufgeführt.
"Der Idiot", ein mit seherischer Sensibilität ausgezeichneter Außenseiter
„Der Idiot“ erzählt, wie ein mit seherischer Sensibilität ausgezeichneter Außenseiter und die verdorbene St. Petersburger Oberschicht aufeinanderprallen. Fürst Myschkin hat sich in der Schweiz wegen Epilepsie behandeln lassen und kehrt nun zurück nach Russland. Seine Aura fasziniert und provoziert. Die innere Welt dieses vom Mitleid geleiteten Sonderlings ist Weinbergs Thema.
Der Idiot ist ein Prophet, der die Wahrheit sagt und die Katastrophe vorausahnt. Am Ende des Abends stehen ein Femizid und eine irritierende Versöhnung. Die Musik, ein komplexes System aus Leitmotiven, kennt die Tradition von Bach bis Mahler, findet ihren zeitrelevanten Ausdruck mit Zitaten, filmmusikalischen Anspielungen, aufregenden Rhythmuswechseln, tänzerischen Momenten. Dialogisch klingen die dramatischen Duette. Dazu finden der Regisseur und Ausstatterin Malgorzata Szczesniak cinemaskopische Bilder für die Breitwandoptik der Bühne der Felsenreitschule.
Nasstasja. 25 Jahre. Sie verlässt ihn. Er tötet sie.
Es beginnt mit einer Zugfahrt. Das Abteil, in dem Myschkin den Lebemann Rogoschin kennenlernt, bewegt sich von rechts nach links und zurück. Eine Zugbekanntschaft mit Folgen. Eine Winterlandschaft zieht vorbei (Video: Kamil Polak), geht über in eine Flusslandschaft vor zerbombten Fassaden. Rogoschin berichtet dem Fürsten von Nastassja, anfangs ist sie nur in Erzählungen präsent und als Projektion. Wie ein Menetekel erschien ihr Schicksal zum Auftakt des Abends an die Wand geschrieben: Nasstasja. 25 Jahre. Sie verlässt ihn. Er tötet sie.
Bogdan Volkov ist Myschkin, anrührend spielt sein lyrischer Tenor auf der Klaviatur der Seelenqualen seiner Figur. Die Regie zeigt ihn als grüblerischen Wissenschaftler, Formeln von Newton und Einstein stehen auf einer Tafel unter Stichworten in russischer Sprache und dem Satz aus Dostojewskis Roman: „Ich lasse mich auf keinen Handel ein“.
Der gesamte Solisten-Cast überzeugt
Bariton Vladislav Sulimsky als gar nicht so unsympathischer Rogoschin ist mehr Bruder als Gegenspieler Myschkins. Beide begehren aus unterschiedlichen Gründen Nastassja. In ihrer Rolle zwischen Superweib wider Willen und Opfer trumpft Sopranistin Ausrine Stundyte auf. Als ihre resolute Rivalin Aglaja ist Mezzosopranistin Xenia Puskarz Thomas eine hoch spannende Besetzung, wie der gesamte Solisten-Cast unbedingt überzeugt. Einfach großes Musiktheater.
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