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Wenn die Gedanken Karussell fahren

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Die Boxx@Night (Corona-Edition) zeigt das Monolog-Stück "Finnisch" von Martin Heckmanns.

Von Michaela Adick
All die einsamen Menschen: Sven-Marcel Voss überzeugt in der Boxx im Monolog-Stück "Finnisch oder: ich hätte dir gerne etwas gesagt" von Martin Heckmanns.
Foto: Michaela Keicher
All die einsamen Menschen: Sven-Marcel Voss überzeugt in der Boxx im Monolog-Stück "Finnisch oder: ich hätte dir gerne etwas gesagt" von Martin Heckmanns. Foto: Michaela Keicher  Foto: Michaela Keicher

In einem gräulichen Strampelanzug kauert er auf dem Boden der fast leeren Bühne der Boxx, hat dabei die Decke halb über den Kopf gezogen, und daddelt an seinem Mobiltelefon: Keine Gestalt, der man Großes zutraut. Keine Gestalt, der man irgendetwas Gescheites zutrauen würde. Ein trauriges Knuddelwesen ist er, dieser junge Mann aus dem Geschlecht der Helden wider Willen, ein junger Mann, den man in der Boxx besser kennenlernen wird, als man je zu träumen gewagt hätte.

Dass aus der Ferne die Ruhrpott-Ikone Helge Schneider ganz sanft "Bitte geh" nicht vorbei, bleib doch mal steh"n" säuselt, macht die Situation nicht einfacher für ihn, den Strampelhosenmann. Denn Helge kann ihm, dem namenlosen Helden aus Martin Heckmanns zu Herzen gehendem Monolog-Stück "Finnisch oder: Ich hätte Dir gerne etwas gesagt", das schon vor zwanzig Jahren uraufgeführt worden ist, aber aktueller denn je erscheint, nun auch nicht mehr helfen.

Erlebt der junge Mann Erlösung?

Der junge Mann hat alles getan, was er konnte. Hat sich selbst ein Paket ins Haus bestellt. Nur um ihr, der von ihm insgeheim angehimmelten Postbotin, für einen Moment nahe zu sein. Wobei: Hat er denn wirklich alles getan? Ist er für den herbeigezitterten Moment tatsächlich präpariert? Dieser Frage aller Fragen wird Sven-Marcel Voss (Regie: Anja Bräutigam) ein Stündchen auf den Grund gehen, bis zum erlösenden Klingeln an der Haustür. Wobei das mit der Erlösung noch zu hinterfragen wäre.

Doch zunächst muss die lange imaginierte Begegnung erklärt und definiert sein, sie wird ein ums andere Mal verworfen werden müssen und neu gestellt sein. Ja, so eine existenzielle Situation will auf Herz und Nieren überprüft, hinterfragt und noch einmal hinterfragt sein. Wenn die Gedanken Karussell fahren, dann gibt es kein Halten, geschweige denn ein Korrektiv. Reicht eine Begrüßung wie "Schön, dich zu sehen?" Darf er sie, die geliebte Unbekannte, anfassen? Das ist zu gewagt, gewiss, das erkennt er immerhin in einem seiner seltenen lichten Momente. Dabei gründet er in Gedanken bereits eine Familie mit ihr.

Träumen ist erlaubt, führt aber zu nichts

Über die Postbotin lernt der Besucher in den beiden Aufführungen in der Reihe "Boxx@Night" (Corona-Edition) wenig. Wie sollte er auch? Sie bleibt rein virtuell präsent, als großer weißer Elefant im Raum. Ein Trugbild, in das Sven-Marcel Voss in seinem hinreißenden, schweißtreibenden Parforceritt von Monolog alles hineinprojizieren darf. Gemeinsame Urlaube, Berührungen, Zärtlichkeiten inklusive.

In immer exzentrischeren Anläufen inszeniert der Schauspieler seinen Helden, schlüpft dabei in immer neue Rollen, die klugen Versuchsanordnungen gleichen. Da ist er dann schon einmal der harmlose Strandbewohner, der sich an seine Kindheit erinnert. Oder eben auch der coole Humphrey-Bogart-Verschnitt. "Du, sag ich", sagt der Voss"sche Protagonist dann. Aber wie er es sagt. Wie Philip Marlowe in seinen besten Zeiten.

So lebt es sich mit existenzieller Einsamkeit

Doch Text und Realität wollen nicht recht zusammenpassen. Denn da steht kein Marlowe vor uns, sondern immer noch der fragile, vereinsamte Strampelhosenmann in seiner existenziellen Einsamkeit, Bruder im Geiste einer Eleanor Rigby. All die einsamen Menschen, mit ihren großen und kleinen Sorgen. Menschen, die morgens aufstehen und wissen, dass sie scheitern werden. Scheitern, aufstehen, Krönchen richten, wieder versuchen. Das sagt sich so leicht. Aber das Leben ist kein Postkartenspruch.

Immer wieder blickt Sven-Marcel Voss direkt in den Publikumsraum, nimmt Kontakt mit den Besuchern auf. Doch die vierte Wand der Boxx, sie steht. Aber gibt es denn nicht wenigstens dieses kleine Fünkchen Hoffnung, dass der Aufbruch gelingen könnte? Ein Restzweifel bleibt, auch wenn unter dem Strampelanzug ein blaues Oberhemd zum Vorschein kommt.

Aber immerhin gibt es da noch den immer zuversichtlich gestimmten Helge Schneider, der seinen Song mit den Worten "Wir werden gemeinsam auf schneeweißen Pferdchen in den Himmel der Liebe reiten" beendet. Soviel Trost darf, nein, muss sein.

Zur Person

1971 in Mönchengladbach geboren, wächst Martin Heckmanns im westfälischen Herford auf. In seiner Magisterarbeit beschäftigt sich Heckmanns, der in Berlin Geschichte, Philosophie und Komparatistik studiert hat, mit dem "Witz in der Frühromantik". 2002 wird er von der Zeitschrift "theater heute" zum Nachwuchsdramatiker des Jahres gekürt, 2003 und 2004 erhält er den Publikumspreis der Mühlheimer Theatertage. 2009 bis 2012 ist Heckmanns, der in Berlin lebt, Dramaturg und Hausautor am Staatsschauspiel Dresden. Er unterrichtet szenisches Schreiben, unter anderem an der Universität der Künste in Berlin. Seine Stücke wurden in mehr als zehn Sprachen übersetzt.

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