Was er noch zu sagen hätte
Ein melancholischer Abend mit Reinhard Mey in der Harmonie

Und dann hüpft er doch tatsächlich wie eh und je auf die große, leere Bühne. ""n Abend", nuschelt er, wie nur Reinhard Mey nuschelt. "Da bin ich wieder." Drei lange Jahre hat er sich Zeit gelassen, musste er sich vielleicht auch Zeit lassen.
Die Erkrankung des Sohnes, das Wachkoma, der frühe Tod mit nur 32 Jahren im Frühjahr. Magische Kräfte, so erzählt er in der seit Monaten ausverkauften Harmonie, hätten ihn gerettet. Und sein Wille, weiterzumachen. Dass er nicht weiter singen würde, nicht den "Spielmann, Träumeverkäufer, Stelzengänger, Gaukler" mimen würde, so Mey über den nimmer müden Reinhard, stand gar nicht zur Diskussion. "Meinen Zenit habe ich schließlich noch nicht überschritten", so Mey vertraut selbstironisch. Das so oft peinigende Fishing for Compliments des Show-Biz ist seine Sache nun partout nicht. Aber so einfach ist das eben doch nicht. Mey wollte. Konnte aber nicht. Nicht einfach nicht da weiter machen, wo er aufgehört hat.
Vertraut
Und so erleben die 2000 Mey-Verehrer aus drei Generationen einen - wenn es überhaupt möglich ist - noch intimeren, noch persönlicheren Reinhard-Mey-Abend. Es gibt doch noch so viel zu erzählen, über die Familie, die Freunde. Ja, auch über die Berliner Republik ("Das Narrenschiff"). Aber das nur in Notfällen, viel lieber erzählt er von den kleinen, vertrauten Gesten, wenn man als Paar gemeinsam älter wird. Über die Tochter, die längst auf eigenen Beinen steht, die aber immer noch mit Schleifen im Haar vor sich stehen sieht. Über den Vater in seinem sorgfältig gepflegten Fischgrätmantel. Selbst Erinnerungen an seine gute alte "Annabelle" werden wach, genau jene Frau, die er vor über vierzig Jahren als gar zu intellektuell gescholten hatte. Ein neues Lied widmet er ihr.
Ausverkauft
Überhaupt singt er viele neue Lieder, über nichtsnutzige SUVs und Kuh Louise, die mit ihren Freundinnen ausbüxt. Motto: Jede Louise braucht eine Thelma. Aber all diese Lieder täuschen nicht darüber hinweg, dass Reinhard Mey auf seiner ausverkauften Deutschland-Tour mit ihren 60 Stationen nur eines bewegt. Der Tod. Das eigene Ableben klammert er noch aus, siehe oben, aber der Tod hat Einzug gehalten in die Familie. "Lass nun los das Ruder" wird er seinem Sohn nachrufen, auch hier beschwört er noch einmal all die kleinen Momente und Gesten. Und weil Reinhard Mey alles mag, nur eben keinen Pathos, sagt er ein schlichtes "Dann mach"s gut".
Die Fans schlucken. Alle sind jetzt Familie. Aber weil Mey weiß um eine gelungene Dramaturgie, wird er die Spannung wieder auflösen, in luftige Höhen steigen.
"Lilienthals Traum" vom Fliegen besingt er und setzt der Ballade - und das ist eine wahre Rarität - ein zartes "Über den Wolken" entgegen. "Ein Lied, mit dem ich sorgsam umgehen muss, damit es immer jung bleibt", so Mey über seinen Evergreen aus dem Jahr 1974. In zehn, zwölf Jahren wird er ihn wieder live singen. Dann ist er 81 Jahre alt und wird uns immer noch viel zu sagen haben. Über die Familie, die Zeitläufte.
Mit einem "Gute Nacht, Freunde" und "was ich zu sagen hätte", wird er auch 2024 sein Konzert beenden. Auch wenn das Ende immer länger ist "als eine Zigarette und ein letztes Glas im Steh"n" .