Kafkas Horrorkabinett: "Amerika" im Schauspielhaus Stuttgart
Beklemmend komisch inszeniert Viktor Bodó Franz Kafkas Romanfragment "Amerika" am Stuttgarter Schauspiel als schräge Revue.

Seine Bücher sind erstaunlich. Er selbst ist viel erstaunlicher", schrieb Milena Pollak nach ihrer Affäre mit Frank Kafka an dessen Freund Max Brod. Dieses Staunen vor seinem Werk und seiner Person macht das Faszinosum Kafka aus, wenn er seine Figuren unergründlichen, bedrohlichen, absurden Situationen aussetzt. Auf TikTok scheint derzeit gar unter Jugendlichen weltweit eine Kafka-Manie ausgebrochen zu sein.
Am 3. Juni vor 100 Jahren starb der Autor, der wesentliche Themen der Moderne vorausnahm und von dessen Namen ein Attribut abgeleitet wird - kafkaesk. Kafkas Roman-Fragment "Amerika" ist nun am Stuttgarter Schauspiel zu erleben in der Regie von Viktor Bodó: eine bizarre Revue in Stummfilmästhetik mit großartigem Ensemble.
Ein Abend mit speziellem Thrill
Erzählt wird der soziale Abstieg von Kafkas episch naivem Helden Karl Roßmann, der von einer surrealen Situation in die nächste stolpert, scheinbar ohne eigenes Zutun. Ein glückloser Abenteurer, der nicht verbittert, vielmehr verwundert die Mechanismen um sich zu verstehen versucht.
Dieses Missverhältnis, dass der Zuschauer ahnt, in welch" grotesk-tragische Lage der Protagonist gleich gerät, Karl selbst aber nicht, verleiht dem Abend einen speziellen Thrill. Und bestätigt die treffliche Annahme des Literatur-, Film- und Theaterkritikers Hans Sahl: "Kafka schrieb Horrorstories zu seinem und dem Vergnügen anderer."
Der Mensch als Opfer der Bürokratie
Viktor Bodó folgt ziemlich genau Kafkas Romanfragment "Der Verschollene", das Max Brod 1927 postum unter dem Titel "Amerika" veröffentlichte. Der eigentlichen Erzählung stellt Bodó eine Büroszene voran, ein Vorspiel, das den Menschen als Opfer der Bürokratie karikiert. In dieser Monotonie zwischen Arbeit im Akkord und verordneter Pause erhält Josef K. ein Paket aus New York, zuvor musste der eingeschlafene K. erst einmal aus dem Zuschauerraum auf die Bühne eilen.
David Müller spielt diesen K. und später die Figur des Karl Roßmann mit entwaffnender Unbekümmertheit. Die Geschichte ist die: Der 16-jährige Josef K. beziehungsweise Karl Roßmann wird von seinen Eltern in die USA geschickt, als er ein Dienstmädchen schwängert, das ihn verführt. Noch auf dem Schiff trifft er den sprichwörtlichen Onkel aus Amerika (Michael Stiller).
Treiber des Systems und andere dubiose Typen
Dieser Onkel, ein Pedant, möchte den Neffen zu seinem Projekt machen und Karl zu einem "Treiber des Systems" formen. Im Kommissions- und Speditionsunternehmen Jacob also lernt Karl den Reichtum kennen, aber auch dessen Unerbittlichkeit. Als Karl gegen den Willen Jacobs eine Einladung in das Landhaus eines dubiosen Geschäftsfreundes des Onkels annimmt, verstößt Jacob seinen Neffen.
Wieder steht Karl mit einem Koffer auf der Straße, jetzt fällt er zwei Gaunern in die Hände, einem arbeitslosen Franzosen und einem verkrachten Iren. Egal, was Karl unternimmt, es geschieht zu seinem Nachteil. Eine Köchin aus Wien, entzückt über den jungen Landsmann aus Prag, verschafft Karl eine Stelle als Liftjunge in einem Hotel. Den Job ist er bald wieder los, als der betrunkene Ire auftaucht: eine weitere Verkettung beklemmender Umstände, Verleumdung und Denunziation.
Als Haussklave ausgenutzt
Schließlich landet Karl in der Wohnung, in der die beiden Halunken mit der sadistischen Sängerin Brunelda hausen, gegen seinen Willen wird er dort als Haussklave angestellt und ausgenutzt.
Aberwitzig und mächtig schrill überzeichnet die Regie, scheut keine Slapsticks und schafft dabei doch bildstarke, im besten Sinne kafkaeske Tableaux wie Filmstills, die an Wes Andersons Kino erinnern. Videoeinspielungen transportieren das Phänomen Moloch New York und den Rausch der Geschwindigkeit.
Fiese Kapitalisten in Fatsuits
Dazwischen irrlichtert David Müller wie Charlie Chaplins Tramp durch den Abend, umzingelt von Zerrbildern fieser Kapitalisten in Fatsuits, obrigkeitshöriger Angestellter und einer geilen, peitschenschwingenden höheren Tochter (Therese Dörr). Eine Horrorstory, bei der die Schauspieler lustvoll in wechselnde Rollen schlüpfen.
Im Naturtheater von Oklahoma, Kafkas letzte Szene, rockt auf der Bühne im Schauspielhaus eine Grunge-Band, werden die Bühne und Illusionsmaschine Theater vor unseren Augen zerlegt und findet Karl eine fragwürdige Zuflucht. Frenetischer Applaus für einen so komischen wie gespenstischen Abend.
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Kafkas Romanfragment "Der Verschollene": Schon als 15-jähriger Schüler plant Franz Kafka einen Roman, der teilweise in Amerika spielen soll. Amerika wird Kafka nie bereisen. Ende 1911 greift er das Thema wieder auf und beginnt mit dem Roman "Der Verschollene", der Kafka mit großen Unterbrechungen bis 1914 beschäftigt. Neben "Das Schloss" und "Der Process" ist er einer der drei unvollendeten Romane Kafkas und wird 1927 von Kafkas Freund und Herausgeber Max Brod postum veröffentlicht unter dem von Brod bestimmten Titel "Amerika". Zu Lebzeiten Kafkas (1883-1924) erscheint 1913 eigenständig das erste Kapitel "Der Heizer".