(Alb)traumhafter Thriller: Das Handlungsballett "Mayerling" in Stuttgart
Psychologisches Meisterwerk, brillante Technik: Die Wiederaufnahme von "Mayerling" von Kenneth MacMillan am Stuttgarter Ballett gerät zu einem packenden Abend mit so emotionalen wie halsbrecherischen Pas de deux.

Die Geschichte ist großes Drama: Kronprinz Rudolf, Sohn von Kaiserin Elisabeth, besser bekannt als Sisi, erschießt seine Geliebte, die 17-jährige Baronesse Mary Vetsera, im Jagdschloss Mayerling bei Wien - und anschließend sich selbst. Ein Mord und ein Suizid, die vertuscht werden, passt die tödliche Liaison doch so wenig zur Etikette am Österreichischen Hof wie die vielen anderen Affären und die Alkohol- und Morphiumsucht des feschen Thronfolgers, für den die Frauen reihenweise schwärmten.
Mayerling ist nicht nur ein Ort für Touristen der schaurig-schönen Geschichte Habsburgs, sondern Titel eines der psychologisch interessantesten Handlungsballette. Dicht am historischen Geschehen entlang, hat Choreograph Kenneth MacMillan ein packendes und technisch raffiniertes Ballett geschaffen, das 1978 am Royal Ballet in London uraufgeführt wurde.
Das Ballett und seine Fans feiern frenetisch die Wiederaufnahme
Die Premiere der Neuproduktion beim Stuttgarter Ballett im Mai 2019 geriet dann zum Triumph und zu einem Bestseller mit Friedemann Vogel als Rudolf und Elisa Badenes als Mary Vetsera. Lange stand "Mayerling" nicht mehr auf dem Spielplan, jetzt feierten das Ballett und seine Fans frenetisch die Wiederaufnahme mit Stuttgarts Tänzerstars in den Hauptrollen und einem Rollendebüt: Veronika Verterich tanzte die Rolle von Kronprinzessin Stephanie, der unglücklichen Gemahlin von Rudolf, der sich mit dieser politischen Hochzeit von Anfang an nicht arrangieren wollte.
Dirigierte vor drei Jahren noch der inzwischen geschasste Mikhail Agrest das Staatsorchester Stuttgart - die Angelegenheit wird derzeit vor Gericht ausgefochten -, stand nun Wolfgang Heinz am Pult im Stuttgarter Opernhaus. Franz Liszts hochemotionale Musik, orchestriert von John Lanchbery, fließt dahin wie düster-süffige Filmmusik, passend zu Bühne, Kostümen und Lichtkonzept von Jürgen Rose. Vor Roses genialem Setting aus opulenter Ausstattung und spannungsvoller Reduktion wird ein Thriller erzählt, der realistische Elemente mit märchenhaften mischt.
Die fünf Frauen im Leben von Kronprinz Rudolf
Zentral in MacMillans Choreographie sind die sieben komplexen Pas de deux, in denen Vogels Rudolf mit den fünf Frauen verhandelt, die sein Leben mal aktiv, mal passiv mitbestimmen: die geliebte, doch abweisende Mutter (Miriam Kacerova), die ungeliebte Braut, die gerissene Gräfin Larisch und ehemalige Geliebte Rudolfs (Angelina Zuccarini), seine bodenständige Lieblingsmätresse Mizzi (Anna Osadcenko) und natürlich die junge Vetsera.
Begräbnis bei Regen im Morgengrauen
Wie MacMillan allein choreographisch Seelenzustände modelliert und in Abgründe zwischenmenschlicher Beziehungen blickt, ist großartig, entfaltet aber erst durch die darstellerisch wie technisch brillanten Solisten seine Wucht. Friedemann Vogel ist ein erhaben zerrissener, so hochmütiger wie sensibler Antiheld, der mit Revolvern hantiert, mit Totenschädeln und ausgestopften Vögeln und sich fiebrig Morphium spritzt. Mit Marys Begräbnis bei Regen im Morgengrauen hat der über dreistündige Abend begonnen und endet auch - nach einem letzten obsessiven Pas de deux voll atemberaubender Hebespiralen und waghalsiger Würfe.
Weitere Vorstellungen: www.stuttgarter-ballett.de