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„Jedermann“ in Schwäbisch Hall: Der Tod steppt auf der Großen Treppe

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In der Regie von Philipp Moschitz gerät „Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes“ auf der Großen Treppe vor St. Michael zum knalligen Spektakel mit frechen Songs. Um das pathetische Ende kommt aber auch Moschitz nicht herum.

Jedermann (Tobias Licht, liegend), der Tod (Dirk Weiler) und das Motiv der Pietà: „Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes“ hatte am Freitag auf der Große Treppe von St. Michael Premiere.
Foto: Freilichtspiele Schwäbisch Hall / Ufuk Arslan
Jedermann (Tobias Licht, liegend), der Tod (Dirk Weiler) und das Motiv der Pietà: „Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes“ hatte am Freitag auf der Große Treppe von St. Michael Premiere. Foto: Freilichtspiele Schwäbisch Hall / Ufuk Arslan  Foto: Ufuk Arslan

Welche Bilanz zieht einer, der unerwartet erfährt, dass er nur noch kurze Zeit zu leben hat? Auf dieses Gedankenspiel kann sich jeder einlassen, dafür braucht es keinen Glauben an eine höhere Macht. Glücklich darf sich schätzen, wer angesichts des Endes mit sich im Reinen ist. Im Großen wie im Kleinen. Und so scheint es nur im ersten Moment lächerlich, wenn ein singender Jedermann, dem der Tod soeben ein Stündchen Aufschub gewährt hat, auf der Großen Treppe in Schwäbisch Hall mit Udo Jürgens feststellt: „Ich war noch niemals in New York“. Wie viele Sterbende bedauern, nicht mehr von der Welt gesehen zu haben.

1911 im Berliner Zirkus Schumann uraufgeführt, begründete Hugo von Hofmannsthals „Jedermann“ 1920 die Salzburger Festspiele, deren Aushängeschild er heute ist. Wobei Schwäbisch Hall auf eine eigene Tradition verweisen kann, stand das Stück doch ebenso am Anfang der zweitältesten Freilichtspiele Deutschlands. Im Jubiläumsjahr inszeniert nun Philipp Moschitz in Hall „Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes“ als knalliges Spektakel mit frechen Musikeinlagen, nachdenklichen Momenten aber auch Längen. 

„Jedermann“ bei den Freilichtspielen Schwäbisch Hall: Der Tod versteht sein Handwerk

Wenn Schauspieler, Festspielchor sowie der Große Siedershof mit Spielmannszug und Schützen in einer fröhlich-karnevalesken Prozession einmarschieren, ist der Tod bereits mitten unter ihnen. „Ich scheu keinen Mann, tret jeglichen an und verschone keinen“: Dirk Weilers volksnaher Sensenmann in weißer Arbeitskleidung ist einer, der sein Handwerk versteht. Mit bedrohlicher Präsenz schaut er sich ruhig das Treiben auf der schießbudenhafte Bühne (Cornelia Brey) an, demonstriert, wenn es sein muss, seine Macht, einmal darf er sogar ausgelassen steppen.

Ein englisches Mysterienspiel aus dem 16. Jahrhundert sowie weitere Quellen dienten Hofmannsthal als Vorlage, in der Deutung von Philipp Moschitz wird aus der Geschichte um den geläuterten Geldsack eine Art Match über mehrere Runden zwischen dem Teufel (Franziska Becker) und dem Glauben (Barbara Raunegger). Wie Schiedsrichter beim Tennis wachen die beiden über den Punktestand, den Jedermann mit seinen Worten und Taten beeinflusst.

Falsche Freunde und ein letztes Hemd ohne Taschen

Tobias Licht in der Titelrolle kann man sich ganz gut vorstellen als wohlhabenden Zeitgenossen, der mit Immobilien dealt, ins Gym geht und Sportwagen fährt. Nicht ganz vierzigjährig, muss der selbstbewusste, kaltschnäuzige Lebemann plötzlich die bittere Erfahrung machen, dass niemand ihm beistehen will auf seinem letzten Gang. Weder sein guter Gesell (Matthias Zeeb), mit dem sich Jedermann gerne bei einem Bierchen bespricht. Noch die verführerische, stimmstarke Buhlschaft (Franziska Schuster), die fürs Partymachen die passende Droge parat hat.

Auch hat das letzte Hemd bekanntlich keine Taschen. Weswegen Maaike Schuurmans im goldfarbenen Dress bei ihrem starken Auftritt als Mammon den vermeintlichen Besitzer verhöhnen kann: „Du, mein Hampelmann recht brav.“ Und Moschitz, Sven Niemeyer (Choreografie) sowie Heiko Lippmann (Musik) mit „We’re in the Money“ eine revueartige Nummer zitieren aus dem Ginger-Rogers-Musicalfilm „Gold Diggers of 1933“.

Die Hauptdarsteller

Mit Hugo von Hofmannsthals Stück hob Kurtheaterdirektor Robert Braun 1925 die Freilichtspiele Schwäbisch Hall auf der Großen Treppe vor St. Michael als „Jedermann-Festspiele“ aus der Taufe. Schauspieler Leopold Biberti, dessen Bruder Robert Mitglied der legendären Comedian Harmonists war, spielte als erster die Titelrolle. Zuletzt war Gunter Heun der Jedermann in einer Inszenierung von Intendant Christian Doll, die 2019 Premiere hatte. Im Jubiläumsjahr nun gibt Tobias Licht die Titelpartie. 1977 in Köln geboren, studierte Licht dort zunächst an der Journalistenschule, ehe er ein Schauspielstudium absolvierte an der Bayerischen Theaterakademie August Everding in München. Neben Theaterengagements dreht Licht TV-Filme und -Serien.

Standing Ovations bei Premiere in Schwäbisch Hall

Überhaupt die handverlesenen Songs, die vom Ensemble und Chor a capella dargeboten werden: Sie lockern in Hall die moralische und katholische Mär auf. Würde allerdings der ein oder andere Titel nur angerissen, gewänne der Abend mehr Tempo. Eine wohldosiert eingesetzte Soundkulisse und Percussionist Coul Sarademe sorgen für Atmosphäre. An den pseudomittelalterlichen Knittelversen rüttelt die Regie zwar nicht, doch taugt Hofmannsthals Sprache hier und da für Späßchen. Und prostet sich die Festgesellschaft um Jedermann zu, klingt das comicartig – ein Running Gag, der sich nach dem soundsovielten Male aber totgelaufen hat.

Mag Philipp Moschitz’ Zugriff so erfrischend wie unterhaltsam sein, um das pathetische Ende kommt auch er nicht herum. Geifernd und knurrend geht der Teufel der famosen Franziska Becker leer aus in dieser Partie und sieht sich betrogen um die Seele des Sünders Jedermann. Der fügt sich mithilfe des Glaubens und seiner Werke (Birgit Busse) dem Schicksal, legt sich dem Tod in die Arme – womit das Schlussbild vor St. Michael das Motiv der Pietà aufgreift: den vom Kreuz abgenommenen Leichnam Christi im Schoß der Schmerzensmutter Maria. Anhaltender Applaus im Stehen vom Premierenpublikum.

Weitere Vorstellungen

www.freilichtspiele-hall.de

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