Ist Haftbefehl ein Dichter? Ex-Stadtschreiber von Heilbronn analysiert Rap-Lyrik
Heilbronns ehemaliger Stadtschreiber Alexander Estis hat sich die Sprache von Haftbefehl angesehen und findet Parallelen entdeckt. Warum er den Rapper dennoch nicht als Dichter bezeichnen würde.
Alexander Estis hat sich ausgiebig mit Pöbelliteratur beschäftigt, unter anderem als er Germanistik an der Uni lehrte. Sprache ist sein Metier, 2022 war Estis Stadtschreiber von Heilbronn. Im Moment füllt der 39-jährige Autor, Journalist und Übersetzer, geboren in Moskau, aufgewachsen in Deutschland, in Dresden die Rolle des Stadtschreibers aus. Und er hat sich die Texte von Haftbefehl näher angesehen, nachdem der Rapper und eine Netflix-Doku über ihn in aller Munde sind.
Leidenschaftlich und wüst beschimpft haben sich Dichter und Sänger schon vor Jahrhunderten.
Alexander Estis: Es gibt tatsächlich eine literarische Kontinuität der Schelt-, Schimpf- und Tadelliteratur seit der Antike. Der ungeniert schimpfende Grieche Archilochos etwa, der gegen persönliche und politische Feinde ätzt. Oder der römische Dichter Catull und seine obszönen Invektiven. In der ältesten deutschsprachigen Literatur findet sich derlei vor allem in der Sangspruchdichtung des Mittelalters.

Netflix-Doku: Ist Haftbefehl sogar ein Dichter?
Sie würden den Rapper Haftbefehl als Dichter bezeichnen?
Estis: Aus literaturwissenschaftlicher Sicht kann man Parallelen erkennen zwischen der Inszenierung der Rapper-Battles heute und den Dichterfehden älterer Zeiten. In der Art, wie Haftbefehl über seine Texte und seinen Einfluss rappt, wie er sich selbst feiert, findet man Vergleichbares zu früheren Meistern der Schimpfliteratur. Trotzdem: Ob Haftbefehl der neue Catull ist, würde ich bezweifeln.
Und die inhaltliche Seite der Texte? Der Hype um Haftbefehls mitunter menschenverachtende Texte, ist das nicht verharmlosend?
Estis: Ich denke, man muss trennen zwischen der Fiktion, in deren Rahmen jemand wüst schimpft und uns eine Freude am scharfen Wort verschafft. Und den Aspekten, die nicht nur literarischer Schimpf sind, sondern antisemitisch, rassistisch, frauenfeindlich, gewaltverherrlichend.

Einfluss von Rapper Haftbefehl auf die Sprache
Und das soll Schullektüre werden?
Estis: Es gibt unbestritten diesen Einfluss von Haftbefehl auf die Sprache. „Babo“, was soviel wie Chef, Anführer heißt, war ja das Jugendwort des Jahres 2013. Haftbefehl selbst sagt, ich verändere den Duden. Wenngleich ich „Babo“ noch nicht im Duden gefunden habe. Jedenfalls sind das Texte, die millionenfach gehört werden und sich festsetzen. Mitunter mit patriarchalem, rückwärtsgewandtem Gedankengut – und darin besteht eine Gefährdung. Wenn man solche Texte an der Schule bespricht, kommt es sehr auf die kritische Einordnung an.
Unter Jugendlichen sind drastische Wörter gang und gäbe.
Estis: Genau deshalb kommt uns Älteren manches drastischer vor, als es ist. Auch wenn es um die Lust an der Grenzüberschreitung geht: Stilistische Grenzüberschreitungen sind das eine, Grenzüberschreitungen im Menschenbild das andere.
Als „wichtigen Diskursbeitrag zur Wandlungsfähigkeit der deutschen Sprache“ hat vor Jahren die „Stuttgarter Zeitung“ Haftbefehls Texte geadelt.
Estis: Das ist fast komisch. Wenn man die Sprache von Haftbefehl dieser hochgermanistischen Formulierung gegenüberstellt, ist das nicht frei von Ironie.
Übernächste Wochen kommen Sie zu einer Schreibwerkstatt in eine Brackenheimer Schule. Wird Haftbefehl ein Thema sein?
Estis: Bringen Sie mich nicht auf Ideen!


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