Sozialpolitische Stoffe kennzeichen Ödön von Horváths (1901 in Suak, Österreich-Ungarn, geboren, 1938 in Paris gestorben) Werk. Mit Stücken wie „Geschichten aus dem Wiener Wald“, „Glaube Liebe Hoffnung“ oder „Kasimir und Karoline“ wird er zum Erneuerer des Volksstücks. Bekannt sind auch seine zeitkritischen Romane „Der ewige Spießer“, „Jugend ohne Gott“ und „Ein Kind unserer Zeit“. Die Tragikomödie „Zur schönen Aussicht“ von 1926 wird erst 1969 in Graz uraufgeführt.
Gott hilft nur manchmal
Was Ödön von Horváths Tragikomödie „Zur schönen Aussicht“ so gegenwärtig macht. Ein greller Theaterabend im Schauspiel Stuttgart als galliges Endzeitszenario.

„Ich bin eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu“, ist einer dieser gallig genialen Horváth-Sätze. In den Mund gelegt hat der österreichisch-ungarische Dramatiker diese schiefe Logik Ada, einer abgehalfterten Adligen in seiner tragischen Komödie „Zur schönen Aussicht“. Dieses frühe Stück Ödön von Horváths aus dem Jahr 1926 ist nun im Stuttgarter Schauspiel in der Regie von Christina Tscharyiski zu sehen. Ein düstres Endzeitszenario mit beklemmenden Slapstick-Momenten und Parallelen zu unserer Gegenwart.
Der latente Faschismus der Kleinbürger
Wie in anderen seiner großartigen Dramen, „Geschichten aus dem Wiener Wald“ etwa oder „Kasimir und Karoline“, demaskiert Horváth den latenten Faschismus der Kleinbürger schon vor Hitlers Machtergreifung. Und er verhandelt die Mechanismen einer misogynen Welt. Im Hotel „Zur schönen Aussicht“ ist nichts schön außer dem Namen und jene Ada Freifrau von Stetten der einzige Gast.
Inflation, Rezession, Arbeitslosigkeit, gesellschaftliche Umbrüche und das, was man Identitätskrise nennt, kennzeichnen die Zeit, in der Horváth von Menschen erzählt, die ums Überleben kämpfen, und vom Verlust der Wahrheit. Auf der Bühne (Sarah Sassen) wabert Bodennebel und dominiert die Attrappe eines gigantischen Torsos. Männer- oder Frauenkörper? Kräftige, angewinkelte Beine mit Füßen in klobigen Wanderschuhen in Fesseln und ein Rumpf, auf dem eine Kamera liegt, erinnern an ein Flugzeugwrack. Ein bedrohlicher Sound verstärkt das mysteriöse Setting. Die Schauspieler tragen Schuhe und Stiefel mit Krallen wie Greifvögel und manche von ihnen gefiederte Oberteile (Kostüme: Miriam Draxl). Bis auf Christine, den unerwarteten Gast, der in diesen Mikrokosmos tritt.
Jeder der Herren gibt vor, mit ihr geschlafen zu haben
Im vergangenen Sommer war auch Christine (Laura Balzer) in der „Schönen Aussicht“ abgestiegen – wie trefflich hier der Begriff „in einem Hotel absteigen“ doch klingt – und hatte eine Affäre mit Hoteldirektor Strasser (Felix Strobel). Nun konfrontiert sie Strasser mit seiner Vaterschaft. Um Christines Unterhaltsansprüchen, aber auch Liebe zu entkommen, schmieden er und seine zwielichtigen Angestellten Max und Karl, ein gewisser Müller, der aufgetaucht ist, um bei Strasser Schulden einzutreiben, und Adas Bruder Emanuel, der bei seiner Schwester um Geld bettelt, einen perfiden Plan. Der Klassiker: Jeder der Herren gibt vor, mit Christine geschlafen zu haben. Anders als spätere Frauenfiguren bei Horváth, lässt sich Christine nicht in die Opferrolle treiben. Als sie von ihrer beachtlichen Erbschaft berichtet, werben die aasigen Männer windig um ihre Gunst. Umsonst. Sie geht.
Was ein wenig an Dürrenmatts „Der Besuch der alten Dame“ erinnert – verleugnete Vaterschaft, Frauenfeindlichkeit, Geldgier – verdichtet Horváth bereits 30 Jahre früher zu einer ätzenden Studie heruntergekommener Existenzen. Sie alle machen sich gegenseitig das Leben zur Hölle in diesem Hotel, das kurz vor dem Bankrott steht.
Nicht nur Strasser muss Ada gefügig sein, auch Kellner Max (Simon Löcker) und Chauffeur Karl (Tim Bülow), ein ehemaliger Zuchthäusler, hängen am Geldtropf der Baronin. „Ihr habt alle meiner Meinung zu sein“: Therese Dörr als souverän vulgäre Ada zeigt aber auch die verletzliche und verletzte Frau dahinter.
„Wir brauchen einen neuen Krieg“
Zwischen Heroin-Chic und Gothic-Attitüde geistert Dörr durch einen konzentrierten 100-Minuten-Abend. Der in seiner stilisierten Künstlichkeit durchaus ratlos zurücklässt – und doch nachhallt. Vielleicht, weil gerade die überbordende und überzeichnete Grelligkeit der Figuren deren Boshaftigkeit und Hilflosigkeit so schillernd transportiert. Sektvertreter Müller etwa, als Mitglied eines Freikorps hat er mehrere Menschen erschossen, gerät bei Gábor Biedermann zur Karikatur eines zu kurz Gekommenen und schwadroniert: „Wir brauchen einen neuen Krieg. Und Kolonien.“
Außer Christine sind sie alle Untote in einem Schattenreich. Laura Balzer, Gast vom Berliner Ensemble, macht mit entwaffnender Ansage die zarte Gegenfigur zu Ada zur Lichtgestalt in dieser Schlangengrube. „Es gibt einen lieben Gott, aber er hilft nur manchmal. Man müsste ihn besser organisieren.“
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