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Schauspiel Stuttgart
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Ghostwriter aus Leidenschaft

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Warum „Cyrano de Bergerac“ als Rap-Battle von Martin Crimp frei nach Edmond Rostand im Schauspielhaus Stuttgart zu einem so intelligenten wie kurzweiligen Abend in Spielfilmlänge gerät. 

Eine spezielle Männerfreundschaft: Christian (Felix Strobel, links) und Cyrano (Matthias Leja).
Eine spezielle Männerfreundschaft: Christian (Felix Strobel, links) und Cyrano (Matthias Leja).  Foto: Toni Suter

Innere Werte und äußere Schönheit? Im Idealfall geht das zusammen. Oder man trickst, am Ende wird keiner glücklich dabei wie im Fall von Cyrano de Bergerac. Der Wortkünstler mit der langen Nase verfasst als Ghostwriter Liebesbriefe für den feschen, doch tumben Christian, damit der die attraktive Roxane erobert. Dabei ist Cyrano selbst in die Frau verliebt, weiß aber, dass zwischen ihr und ihm seine Nase steht.

Edmond Rostand hat Ende des 19. Jahrhunderts ein romantisch-komödiantisches Versdrama aus dem Stoff gemacht – nach dem historischen Hector Savinien de Cyrano (1619-1655), der nicht nur ein Haudegen und Freigeist war, sondern als Schriftsteller ein Vorläufer der Aufklärung und der Science-Fiction. Zwei fantastische Romane über Reisen zu Mond- und Sonnenbewohnern hat Cyrano geschrieben.

Nicht „in den Arsch von Kulturfunktionären“ kriechen

Dem Publikum vor allem als Bühnen- und Filmfigur bekannt, ist Cyrano de Bergerac nun im Schauspielhaus Stuttgart als messerscharfer Spoken-Word-Poet mit Haltung zu erleben, einer, der nicht in „den Arsch von Kulturfunktionären“ kriecht, um systemrelevant zu sein. Frei nach Rostand bindet der britische Dramatiker Martin Crimp den Plot als Rap-Battle an die Gegenwart, überschreibt das Original und erzählt im Rhythmus unserer Zeit die Geschichte, die im Frühbarock während des Dreißigjährigen Krieges spielt in so poetischen wie politischen Hip-Hop-Reimen.

Martin Crimp, 1956 in Dartford, Kent, geboren, studiert in Cambridge englische Literatur. Seit den 1980er Jahren schreibt er Dramen und arbeitet eng mit der Regisseurin Katie Mitchell zusammen. Auch schreibt Crimp Hörspiele, Opernlibretti und Drehbücher sowie Übersetzungen und Bearbeitungen. In seinen Stücken forscht er den Bruchstellen im bürgerlichen Selbstverständnis nach. Sein Schreibstil zeichnet sich durch eine modern zugängliche Sprache aus, die klassischen Stoffen neues Leben verleiht, ohne deren ursprünglichen Gehalt zu verraten. Martin Crimp lebt in London. 

2022 in London uraufgeführt, inszeniert Burkhard C. Kosminski Crimps rasanten Bühnentext in der deutschen Fassung von Ulrich Blumenbach und Nils Tabert und kürzt auf eine Stunde und 40 Minuten. Ein Abend in Spielfilmlänge mit wunderbar präsenten Schauspielern, die scheinbar beiläufig locker agieren, mit hintersinnigen Kalauern, platter Provokation und brillantem Witz, Anspielungen und Ambivalenzen.

Eine unmögliche Liebe, Besitzanspruch und Verzicht

Crimps genialer Zugriff: Er lässt die Zeit des Cyrano de Bergerac aufleben, andererseits sind die Figuren selbstverständlich gegenwärtig in ihrer Rap-Ästhetik und menschlich dünnhäutig in ihrer Ironie.

Mit Matthias Leja als Cyrano, eine Mischung aus Bürgerschreck Udo Lindenberg und dünnlippig prinzipientreuem Heiner Müller, mit Felix Strobel als harmlos verliebtem Christian und Josephine Köhler als bodenständig intellektueller Roxane, die eben mal zu einer Vorlesung eilt über „Frauen und der männliche Blick in der Dichtung  der Vormoderne“, gelingt ein intelligenter, kurzweiliger Theaterabend. Über eine unmögliche Liebe, Besitzanspruch und Verzicht, Ehrlichkeit und Trug, Macht und Machtmissbrauch, Krieg und seine Opfer.

Duelle finden in animierten Videos statt

Anders als bei Rostand geht Roxane nicht ins Kloster, sondern hat, nachdem Christian als Soldat gefallen ist, andere Männer. 15 Jahre später gesteht Cyrano, wer der Verfasser der so geistreichen Briefe war, bevor er sein letztes Wortgefecht – „Kommt ein Mann in eine Bar“ – gegen sich selbst führt, bis er zusammenbricht. Im Schauspielhaus Stuttgart wird ausschließlich mit Worten gekämpft, fließt kein Blut, finden stilisierte Duelle in einem animierten Video statt. Die funktional reduzierte und doch wirkmächtige (Dreh-)Bühne und die Schwarz-Weiß-Videos stammen von Florian Etti, eine rotierende Erdkugel wird auf die Wand projiziert, auf der Soldaten stoisch marschieren. Die Musik zum Sprechgesang hat Hans Platzgumer geschrieben, in weiteren Rollen gibt Sven Prietz den schmierig lüsternen Richelieu-Günstling De Guiche, ist Marco Massafra ein hippiebewegter, tiefenentspannter Le Bret, Reinhard Mahlberg ein auf Ausgleich bedachter Intendant ohne Rückgrat und in einer Doppelrolle der obrigkeitshörige Priester, David Müller schließlich Montfleury (und Soldat).

Anspruchsvolle Frauen und die Frage, was einen Mann ausmacht

Mit Montfleury, dem aufgeplusterten Barock-Mimen, beginnt die Vorstellung, ein Theater auf dem Theater. In der ersten Reihe sitzen die anderen Schauspieler, sie werden im Laufe des Abends immer wieder aufspringen, kommentieren. Zuerst aber lauschen sie dem eitlen Montfleury, der charmiert und chargiert, bis es Cyrano zu bunt wird und er den Schmierenkomödianten von der Bühne jagt. Das eigentliche Spiel setzt ein, der Pakt zwischen Cyrano und Christian, wenngleich es Cyrano ist, der dem Nebenbuhler seine Sprachkunst aufdrängt. Nicht uneigennützig, durch seine Briefe kommt Cyrano Roxane näher. Ein Vexierspiel also aus Schmeichelei, unerbittlichem Wortkampf, Täuschungsmanövern – und ein Lehrstück über Sein und Schein, anspruchsvolle Frauen und die Frage, was einen Mann ausmacht. Weder Martin Crimp noch Regisseur Kosminski bieten eine Antwort. Wohl weil es keine gibt.

Weitere Vorstellungen: www.schauspiel-stuttgart.de

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