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Schauspiel Stuttgart
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Fake, Gewaltfantasie oder Wirklichkeit?

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Uraufführung von „Die Erfindung“ von Clemens J. Setz im Kammertheater des Stuttgarter Schauspiels: Was dieses Dreipersonenstück über einen fiktiven Onlinehandel im Darknet so unterhaltsam - und beklemmend macht.

Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer, oder wie wäre es mit einem Shop im Darknet? S (Katharina Hauter) und C (Marco Massafra) im Kammertheater.
Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer, oder wie wäre es mit einem Shop im Darknet? S (Katharina Hauter) und C (Marco Massafra) im Kammertheater.  Foto: Björn Klein

Streiten die wieder? Wer kennt das nicht: Die Nachbarn sind so laut, dass man nicht schlafen kann. Für S und C, ein nicht näher bestimmtes, kinderloses Paar Mitte 30, ist diese Art der Lärmbelästigung besonders krass und geht seit Wochen so. Nächtliches Gebrüll, beängstigende Schreie, undefinierbares Wimmern in der Wohnung über ihnen. Dazwischen hört man auch noch Kinder.

Doch weder stecken sich S und C Oropax in die Ohren, noch klingeln sie bei der ihnen unbekannten Familie. Auch rufen sie nicht die Polizei, sondern überlegen sich erst einmal spintisierend, wie man die Nachbarn umbringen könnte.

Ein Mathelehrer kidnapped Frauen

Giftgas ist definitiv zu „nazi“, meint S, die Frau. Und weil schlaflose Nächte die Fantasie beflügeln, denken sich die zwei etwas anderes aus. Streng genommen ist es die Idee eines Autors, dessen preisverdächtiges Buch bei C auf dem Nachttisch liegt und ihn inspiriert. In dem Roman „Wormed“ kidnapped ein Mathelehrer Frauen, amputiert ihnen Arme und Beine, lässt sie „gewormed“ weiterleben und bietet sie im Darknet an.

„Um Gottes willen. Wem fällt sowas ein?“, fragt S und wundert sich über die Lektürevorliebe ihres Mannes. Einem Österreicher fällt das ein, sagt C. Österreicher wie Clemens J. Setz, der mit dem Bühnenstück „Die Erfindung“ bereits das dritte Auftragswerk für das Stuttgarter Schauspiel geschrieben hat.

Schriller Theaterzauber über Wahrnehmung in digitalen Zeiten

Die Uraufführung im Kammertheater gerät nun in der Regie von Lukas Holzhausen mit den drei ganz famosen Spielern Katharina Hauter, Marco Massafra und Michael Stiller zu einem dichten, kurzweiligen, schrägen und erfrischend intelligenten Abend: ein Horrortrip zwischen Fiktion und Wirklichkeit, ein Vexierspiel in einer digitalen Gegenwart, in der verschwimmt, was Fake ist, was Einbildung, was Realität. Und darüber darf der Zuschauer 100 Minuten lang rätseln und länger noch, nach dem frenetischen Applaus des Premierenpublikums. Bei allem schrillen Theaterzauber wird in „Die Erfindung“ das Wesen von Literatur ausgestellt, geht es also um Fiktion. Und um ihre Rezeption und Wahrnehmung, aber auch um die Wahrnehmung generell, die auf dem Prüfstand steht – mit und ohne Algorithmen in den sozialen Medien und im Internet. 

Clemens J. Setz, 1982 geboren, studierte in seiner Heimatstadt Graz Mathematik und Germanistik. Heute lebt er mit Familie in Wien. 2011 erhielt er für den Erzählband „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes“ den Preis der Leipziger Buchmesse. Sein Roman „Indigo“ stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und wurde mit dem Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft ausgezeichnet. 2014 erschien sein erster Gedichtband „Die Vogelstraußtrompete“. Mit drei seiner Stücke war Setz bei den Mülheimer Theatertagen eingeladen. 2021 wurde Setz mit dem Georg-Büchner-Preis, 2023 mit dem Österreichischen Buchpreis geehrt. 

Auf der Bühne (Jane Zandonai) – ein schickes Schlafzimmer, vom dahinter liegenden Badezimmer getrennt durch ein Aquarium, das an ein Kunstwerk von Damien Hirst erinnert – setzen Massafra als C und Hauter als S gemeinsam mit ihrem Freund Manfred (Michael Stiller als Computernerd und verschrobener Katzenfreund) die krud-frauenverachtende Romanidee um. Als Fake, selbstverständlich, sagen sie. Sie etablieren einen Onlineshop, der „wormed“ women und was von ihnen übrig geblieben ist anbietet. Als die Bestelltaste heiß läuft im Darknet und immer abstrusere bis monströsere Anschriften einlaufen, verselbstständigt sich diese als Zeitvertreib gedachte Erfindung. Die Sache wird unheimlich, das Paar reagiert paranoid, verdächtigt sich gegenseitig und Manfred.  

Die Dynamik einer totgelaufenen Paarbeziehung

Clemens J. Setz, der 42-jährige Büchnerpreisträger, führt in seinem Kammerspiel auch die abgründige Dynamik einer totgelaufenen Paarbeziehung vor. Der eigentliche Thrill allerdings entwickelt sich aus einer Gewaltfantasie, die einerseits Parodie ist, andererseits ein endzeitliches Szenario zeichnet. Der Reiz des Abends: Wenn der perverse Plot eines Romans in die Wirklichkeit eines Theaterstücks vordringt, ist das zwar auch Fiktion. Die aber thematisiert ziemlich real in aberwitzigen Dialogen unsere Unfähigkeit, zusammenzuleben. Wenn es schlecht läuft, hat Dystopisches Konjunktur – das verhandelt Holzhausens Inszenierung mit Leichtigkeit, ist weder belehrend dabei noch alarmistisch.

Surrealer Witz und die Fassade der Zivilisation

Mit einem souveränen Händchen für den spezifischen Suspense in Setz’ Texten und für surrealen Witz offenbaren Marco Massafra (mit falschem Bart getrimmt als Alter Ego von Autor Setz), Katharina Hauter und Michael Stiller in ihrem intensiven Spiel: Hinter der Fassade der Zivilisation und in den Tiefen des digitalen Netzes lauert das Grauen. Das nicht zu fassen ist.

www.schauspiel-stuttgart.de

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