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Theaterpremiere im Stuttgarter Landtag
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Eine Vergangenheit, die nicht vergeht

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„Die Ermittlung“ von Peter Weiss über den ersten Auschwitzprozess gerät im Landtag Baden-Württemberg zu einem eindringlichen Dokumentar-Schauspiel. Und fragt, ob der Massenmord des Holocaust aus der Gesellschaft gekommen ist. 

Außergewöhnliche Theaterpremiere: "Die Ermittlung" von Peter Weiss im Landtag mit dem Stuttgarter Schauspielensemble: Christiane Roßbach (links), Gabriele Hintermaier, Boris Burgstaller, Sven Prietz.
Außergewöhnliche Theaterpremiere: "Die Ermittlung" von Peter Weiss im Landtag mit dem Stuttgarter Schauspielensemble: Christiane Roßbach (links), Gabriele Hintermaier, Boris Burgstaller, Sven Prietz.  Foto: Ingrid Hertfelder

Der alltägliche Antisemitismus der Deutschen als Triebkraft des Holocaust – mit dieser These konfrontiert der US-Soziologe und Politologe Daniel Goldhagen vor 29 Jahren die deutsche Öffentlichkeit. Sein Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ löste die sogenannte Goldhagen-Debatte aus und eine Auseinandersetzung der Deutschen mit den Ursachen des Holocaust. Den Massenmord aus der Gesellschaft, Auschwitz als Folge eines  Systems, machte 1965 bereits der Dramatiker Peter Weiss mit dem Mitteln des dokumentarischen Theaters zum Thema.

Der Zuschauer als teilnehmender Beobachter

„Die Ermittlung“ verhandelt den ersten Frankfurter Auschwitzprozess von 1963 bis 1965 und verdichtet den Holocaust wie auch den Umgang der Nachkriegsgesellschaft mit ihrer unmittelbaren Geschichte zum Blick in den Abgrund. An fünfzehn west- und ostdeutschen Theatern sowie von der Royal Shakespeare Company London wurde das Stück zeitgleich uraufgeführt. Jetzt steht es beim Stuttgarter Schauspiel auf dem Spielplan und fand die Premiere an einem ungewöhnlichen Ort statt. Im Baden-Württembergischen Landtag, einem Plenum für Demokratie, das die Zuschauer zu Beobachtern macht, wie es Peter Weiss war, als er den Auschwitzprozess verfolgte.

Weiss hat sein Stück aus den Prozess-Protokollen entwickelt, ohne ausschmückende Erläuterungen, die klaren Sätze zu einem reimlosen Epos montiert. Als Bühne gab er einen Gerichtssaal vor, der Fokus soll auf dem Wort liegen. Und das geht durch Mark und Bein. Nüchtern und emotionslos schildern die Augenzeugen minutiös vom Leben und Sterben im Konzentrationslager.

Wie hätte ich mich verhalten? Im Lager?

Stuttgarts Intendant Burkhard C. Kosminski bleibt nah am Text und dessen Aufbau. Die Schauspieler, gekleidet in der Anmutung der 60er Jahre überwiegend in Beige und Grau, vermitteln stoisch ein Konzentrat aus Fakten, die man zu kennen meint, in ihrer detaillierten Schilderung dann den Atem stocken lassen. Und Fragen aufwerfen: Wie konnte es soweit kommen, aber auch wie hätte ich mich verhalten im Lager? Wäre all das ohne die Bereitschaft zur Beihilfe zum Massenmord möglich gewesen?  

Peter Weiss, 1916 bei Potsdam geboren, 1982 in Stockholm gestorben, ist einer der Vertreter der avantgardistischen, minutiösen Beschreibungsliteratur der deutschen Nachkriegszeit, Verfasser autobiografischer Prosa wie politisch engagierter Dramen. Das Stück „Marat/Sade“ wurde mit dem Tony Award ausgezeichnet. Sein Auschwitz-Oratorium „Die Ermittlung“ führte in den 60er Jahren zur breiten vergangenheitspolitischen Auseinandersetzung. Nächste Aufführungen: www.schauspiel-stuttgart.de

Im hell erleuchteten Plenarsaal im Landtag kann sich der einzelne Zuschauer nicht in sich zurückziehen, anders als im dunklen Theater. Diese Atmosphäre macht den Abend noch dichter, eindringlicher. Nächste Vorstellungen finden am Landgericht Stuttgart statt und an weiteren Orten des öffentlichen Lebens, die eine Realität suggerieren, die dieses dokumentarische Theater mit seinen reduzierten Mitteln nicht ist. Aufgebaut in elf in Kapitel unterteilte Oratorien, zeichnen Zeugen, Angeklagte, Richterin, Verteidigung und Anklage das ungeschönte Bild von der Ankunft an der Rampe bis zum Tod in der Gaskammer. Und wie Menschen Opfer werden, Mitläufer, Helfer, zur Bestie.

Das Wort Jude fällt keine einziges Mal

So juristisch-sachlich die Rekonstruktion des Lebens im Lager klingt – das Wort Jude fällt kein einzige Mal –, so beklemmend gerät der gut zweistündige Abend. Links sitzen die  Angeklagten auf der (Regierungs)-Bank im Landtag, in der Mitte das Hohe Gericht, rechts die Zeugen. Immer wieder wechseln Schauspieler zwischen rechter und linker Seite, ein unaufgeregter Regiehinweis, die Grenze zwischen Täter und Unterstützer ist nicht klar zu ziehen, wie Aussagen der  Helfer von außerhalb des Lagers bezeugen. Wo endet Unfreiwilligkeit, wo beginnt Freiwilligkeit? Wer verschließt die Augen, wer rechtfertigt sich, man habe auf Befehl gehandelt? Wer ist Sadist aus Leidenschaft?

So wie die Identität der Häftlinge durch in die Haut tätowierte Nummern ausradiert wurde, bleiben die Zeugen anonym, während die Angeklagten Namen tragen. Sie sind es, die mit selbstgerechtem Lächeln und zynischer Empörung Emotionen zeigen. Angespannt folgt man dem unterschwellig mimischen Wechselspiel der Schauspieler. Das 17-köpfige Ensemble ist auf eine selbstverständliche Weise präsent.

Der Horror in den Feueröfen und die empathielose Selbst-Verteidigung

Die Rede von den Transporten, der Aussonderung, den Foltermethoden, den Möglichkeiten, sich anzupassen, um zu überleben, die medizinischen Versuche des freundlichen Dr. Mengele mit tödlichem Ausgang: eine schier unerträgliche Steigerung. Der Aussage zum Horror in den Feueröfen folgt die empathielose Selbst-Verteidigung eines Offiziers. Das, was Ralph Giordano die „zweite Schuld“ nannte, das Leugnen und Verdrängen der „ersten Schuld“. Oder wie es ein Zeuge im Stück mit „Ich kam aus dem Lager heraus, aber das Lager besteht weiter“ auf den Punkt bringt. Anhaltender Applaus.

Außergewöhnliche Theaterpremiere: "Die Ermittlung" von Peter Weiss im Landtag mit dem Stuttgarter Schauspielensemble: Christiane Roßbach (links), Gabriele Hintermaier, Boris Burgstaller, Sven Prietz.
Außergewöhnliche Theaterpremiere: "Die Ermittlung" von Peter Weiss im Landtag mit dem Stuttgarter Schauspielensemble: Christiane Roßbach (links), Gabriele Hintermaier, Boris Burgstaller, Sven Prietz.  Foto: Ingrid Hertfelder
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